Irritierend vertraut
Immersion in digitale Kunst-Welten

25. Oktober 2022 • Text von

Die Immersion in digitale Kunst kann eine grenzenlos breite Vielfalt an Welten und Denkansätzen eröffnen. Wie funktioniert die Kommunikation in einem solchen Raum, mit wem werden wir überhaupt interagieren und auf welche Art und Weise? Wir haben uns drei Ausstellungen näher angeschaut. (Text: Olga Potschernina)

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Bahareh Khoshooee: Max Motives, Episode 01 Video, single channel, 2019. Still.

Durch die Türen des berüchtigten Sex-Shops L.S.D. in der Kurfürstenstraße geht es in die oberen Etagen des Gebäudes und rein in ein Sammelsurium an digitalen Präsentationen. 21 internationale Künstler*innen zeigen in der Ausstellung „Gender Bender Time Traveller. Queer Art from the Future“ ihre Visionen einer digitalen Welt und untersuchen eine mögliche technologiegetriebene Evolution von Sexualität, Geschlechteridentität, Race und Kultur.

Die Künstlerin Stacie Ant präsentiert in ihrer Videoarbeit sieben humanoide Charaktere, die an Schönheitsstandards im Metaverse angelehnt sind. Die Figuren wirken wie Aliens und doch scheinen sie einem vertrauten ästhetischen Ideal zu entsprechen. Ähnlich verzerrt begegnen einem Bilder in den sozialen Medien: mit filterüberzogenen Gesichtern, die den Maßregeln der Symmetrie in ausgefeilter Perfektion entsprechen.

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Stacie Ant. // Georgie Roxby: Fair Game, GTAV Online Intervention, machinima, single channel video, 2015. Still.

„Fair Game“ von Georgie Roxby ist in der Welt von Grand Theft Auto V angesiedelt. Anders als gewohnt erfüllt hier die männlich konnotierte, durchtrainierte Spielperson jedoch nicht die üblichen Aufträge. Sie verfolgt ein anderes Ziel: eine Frau. Die rennt schreiend davon – in hohen Schuhen und knappem Kleidchen, ein Stereotyp des weiblichen, hilfesuchenden Charakters, nicht unbekannt aus vielen Videospielen. Ihr Verfolger rennt ausdauernd hinterher. Die Minuten ziehen sich in die Länge, ohne, dass er sie einholen kann. Das steigert die Beklemmung beim Zuschauen. Es scheint klar, dass er sie jagt und quält – und jederzeit zuschnappen kann.

Weniger beklemmend, dafür hochgradig skurril geht es in Bahareh Khoshooees Arbeit „Max Motives, Episode 01” zu. Die fortlaufende Webserie spielt sich im Universum von Die Sims 2 ab. Sie erinnert an einen Mix aus GZSZ und Trash-TV-Formaten gemixt mit einer Prise Humor. Die Figuren ziehen übereinander her, hecken fiese Pläne aus und werden bei Orgasmen beobachtet. Im Mittelpunkt des Ganzen steht die Geburt eines Kindes, dessen elterliche Zugehörigkeit nicht endgültig geklärt zu sein scheint.

Roxby und Khoshooee haben die weltbekannten Spiele GTA V und Die Sims für Ihre eigenen Zwecke verfälscht und ihnen eine befremdliche Energie eingehaucht. So wie auch bei Ants humanoiden Charakteren ist offenbart sich im Vertrauten die Irritation.

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LuYang: DOKU – Experience Center Deutsche Bank “Artist of the Year” 2022. Installationsaufnahme der Serie “DOKU Six Realms of Reincarnation”, 2022. Leuchtkästen, je 150 x 97.5 x 5 cm. Courtesy the artist and Société, Berlin. © LuYang. Foto: Mathias Schormann. // LuYang: DOKU Human, 2022. Aus der Serie “DOKU Six Realms of Reincarnation”,  Leuchtkasten, 150 x 97.5 x 5 cm. Courtesy the artist and Société, Berlin. © LuYang

Eine Gameästhetik vermitteln auch die Figuren der chinesischen Medienkünstler*in LuYang in der Ausstellung „LuYang: Experience Center“ im Palais Populaire. Hier steht die Reinkarnation von LuYang im Fokus, der genderneutrale Avatar Dokusho Dokushi, kurz DOKU, abgeleitet vom Japanischen „alleine sterben und alleine geboren werden“.

Blinkende Lichter, grellbunte Farbwelten: DOKU’s Welt präsentiert sich als soghafte Szenerie, inspiriert von Science-Fiction, Manga-, Gaming- und Technokultur aus China. Die Künstler*in arbeitet mit hypermodernen Technologien. Die Hauptfigur ist mittels aufwendiger Motion-Capture-Technologie entstanden. Mindestens 100 Personen sollen an der Entwicklung beteiligt gewesen sein, unter ihnen viele Tänzer*innen und Schauspieler*innen. Damit bewegen sich LuYangs Arbeiten zwar in einem Meta-Universum, sind gleichzeitig jedoch klar in der realen Welt verankert.

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LuYang: DOKU the Self, 2022. Film Still aus DOKU the Self, 3D-Animationsfilm, 36 min. Courtesy the artist and Société, Berlin. © LuYang.

Sechs digitale Versionen von DOKU finden sich auf den im Ausstellungsraum verteilten Bildschirmen wieder. Jede wird jeweils einer Energie oder Emotion der sechs Daseinsbereiche der Wiedergeburt in der buddhistischen Tradition zugeordnet. LuYang erweckt die digitale Hülle der DOKU-Avatare zum Leben und lädt sie mit persönlichen Erfahrungen, Religion und Spiritualität sowie Einflüssen der globalen Popkultur auf.

Doch wie wirkt sich nun eine technologisierte Welt auf uns Menschen aus, die wir im Jetzt, in der Realität leben? Wie weit reicht das Digitale bereits ins Analoge hinein?

Die US-amerikanische Künstlerin und Programmiererin Rachel Rossin schafft in Ihren Arbeiten ein Zusammentreffen von Körper und Maschine. Schnittstellen von Gehirn und Computer setzt sie in digitale Landschaften um, versetzt ihre Figuren in eine Betrachtenden vertraute Umgebung und erweitert die Realität ins Digitale.

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Rachel Rossin, THE MAW OF (2022) © die Künstlerin.

Zur Berlin Art Week bespielte Rossin das Tieranatomische Theater. Mittels VR-Brille entriss die Künstlerin Besucher*innen ihrer gewohnten Wahrnehmung. Der Raum erschien in Schwarz-weiß, plötzlich bevölkerten seltsame Kreaturen das Bild – ein starker Schein wie bei einer Wärmebildkamera ging von ihnen aus. Die menschlich-animalischen Körper schienen vertraut, doch wie von einem Parasiten besetzt. Technische Elemente ummantelten die Körper, schmiegten sich perfekt an ihre Konturen an.

Technologische Einflüsse und Elemente sind schon längst omnipräsent in der menschlichen Psyche. Und wer weiß, vielleicht sind wir schon längst von technischen Wesen besetzt, ohne es zu realisieren?

WANN: Die Ausstellung „Gender Bender Time Traveller. Queer Art from the Future“ läuft bis Samstag, den 30. Oktober.
WO: Über dem LSD SEX SHOP, Kurfürstenstraße 151, 10781 Berlin.

WANN: Die Ausstellung „LuYang: Experience Center“ läuft  bis Montag, den 13. Februar.
WO: Palais Populaire,  Unter den Linden 5, 10117 Berlin.

WO: Die Ausstellung „THE MAW OF“ von Rachel Rossin wird online weitergeführt. Sie ist bis Montag, den 24. Oktober, abrufbar über die Website des KW Institute for Contemporary Art, zudem über die Website des Whitney Museum of American Art, New York.

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