Darum liegt hier Stroh
"Radical Gaming" im HeK - Haus der elektronischen Künste

8. September 2021 • Text von

Direkt mal die Ärmel hochkrempeln. Ist nämlich ordentlich hochtemperiert im Haus der elektronischen Künste Basel. Die Umstände wollen es so. Für die Ausstellung „Radical Gaming“ wurde die gesamte Haustechnik verkabelt. Das also sind die klimatischen Bedingungen, wenn man Kunst zocken will. Von 15 Positionen lassen sich 14 spielen. Es blinkt, es tönt, man will es anfassen. Jacke aus und los.

Ein blauhaariger Ork steht in einem Kornfeld. Der Pferdeschwanz weht im Wind.
Theo Triantafyllidis: Pastoral (video game), 2019, Video game, screenshot. Courtesy the Artist and The Breeder Gallery, Athens.

Besucher*innen von „Radical Gaming“ werden behutsam in die Spielewelt gehoben. Kurz vor Reizüberflutung wird zum Runterfahren Feld durchschritten. Ein blauhaariger Trans-Ork von Theo Triantafyllidis lässt sich mit konventionellen Controllern gen Horizont steuern. Muskelbepackt wäre der Avatar geeignet, ordentlich Kreaturen zu zerlegen. Doch anders, als es der Körperbau würde vermuten lassen, soll hier kein Fantasy-Fight ausgetragen werden. Stattdessen begegnet man etwa einem gehörnten Wesen mit Mandoline. Das klimpert leise, Stroh knistert. Es riecht auch nach Stroh, entsprechende Ballen wurden frisch in die Ausstellung verfrachtet. Haben wir uns alle beruhigt? Dann weiter.

Da ist die Desktop-PC Station von Danielle Brathwaite-Shirley. Per Mausklick gelangen Besucher*innen in die „Resurrection Lands“, einen Schutzraum für Schwarze Transpersonen, der so gestaltet ist, dass sich auch diejenigen, die sich offline vielleicht Allies nennen würden, fremd fühlen. Konventionelle Machtverhältnisse sind in dem Multiple Choice Game umgekehrt: Auch so könnte Welt aussehen. Und es sind zwar nur ein paar Klicks, doch man wundert sich, wie schnell man ganz drin ist in einem Spiel, was an die Realität doch so nah heranreicht.

Eine nackte Frau mit langen weißen Haaren sitzt auf steinernem Grund.
Miyö Van Stenis: EROTICISSMA, 2021, Video game, screenshot © Miyö Van Stenis Courtesy of the artist.

Jemand anderes sein, eine andere Position einnehmen in der Welt. Mit frischem Blick aufs menschliche Zusammenleben sind alternative Zukünfte plötzlich so viel möglicher. Lawrence Lek entführt mit „Nøtel“ in ein Science-Fiction-Szenario, das die Zukunft dystopisch als menschenleere, dafür drohnenüberwachte Hotel-Lobby inszeniert, Leo Castañeda in marginal beleuchtete Sumpflandschaften. Miyö Van Stenis schickt Spieler*innen von „Eroticissima“ zum lustvollen Beisammensein jenseits des Heteronormativen auf eine Insel – navigiert wird mit Cock-Ring-verziertem Controller.

Mal vorsichtig formuliert: Süchtig macht das alles nicht. Anders als kommerzielle Games, sind die Art Games auch gar nicht ausgelegt, Spieler*innen mit dem schnellen Dopamin-Fix zu versorgen. Verbreiteten Vorurteilen entgegen ist es grundsätzlich Arbeit, sich ein Spiel zu erschließen. „Man muss kämpfen,“ sagt Kurator Boris Magrini. Die Belohnung dafür ist im besten Fall eine Erfahrung, die so bei einem Brettspiel nicht möglich gewesen wäre. „Radical Gaming“ ist wirklich nicht die erste Ausstellung, die einem als interaktiv und immersiv verkauft worden ist, aber hier finden die Buzzwords im kuratorischen Konzept sowie in den einzelnen Positionen auch tatsächlich Widerhall.

Eine futuristische Landschaft mit verpixelten Bäumen und langbeinigen Steinwesen vor magentafarbenem Himmel.
Sahej Rahal: Antraal, 2019, Video game and artificial intelligence simulation, screenshot © Sahej Rahal. Courtesy of the artist and Chatterjee & Lal.

Dankbar besonders für Nicht-Gamer*innen sind die installativen Environments, mit denen es Besucher*innen erleichtert wird, den Zugang von der analogen Welt ins Virtuelle immer wieder neu zu wagen. Man hat die VR-Brille noch gar nicht bemerkt, als man neben dem grundschuldkindgroßen Teddybären mit dem rosafarbenen Cowboyhut Platz nimmt. Nicole Ruggiero hat ihn auf einer Couch platziert. Auf dem Tisch davor ein QR-Code – eine Einladung, auf Instagram ihren AR-Face-Filter auszuprobieren. Rasante Wimpern, eisige Tränen, ein paar Herzchen für die Stirn. Wer den Blick schweifen lässt, entdeckt Kultfiguren des Internets wie Molly Soda in der Interaktion mit animierten Charakteren. Die Fotoserie „How the Internet Changed My Life“ erinnert an Online-Kultur als identitätsstiftend. Im VR-Game werden dann Memes frittiert.

Man wundert sich ja, was alles so geht in Sachen Gaming. Kurator Magrini vereint nicht nur ästhetisch Vielfalt und unterschiedlichste Narrative, sondern auch überraschend variantenreiche Spielmechanik unter dem gedanklichen Schirm radikaler Game Art. Radikal ist hier nicht zwingend politisch zu verstehen. Er spricht vom Unkonventionellen, von Irritation und Überraschung. Das kann dann auch bedeuten, dass sich Spieler*innen von Eddo Sterns „Darkgame“ extra für die Arbeit gefertigtes Equipment auf den Kopf setzen müssen – optisch nah an einer Art glossy rote Bananenschale – oder dass sie sich in ein Mikrofon unkend wiederfinden, um mit Stimmintensität futuristische Kreaturen durch Sahej Rahals Spielwelt „Antraal“ steuern.

Eine Gruppe Cyborg-artiger Figuren steht auf einer Lichtung. Sie scheinen zu tanzen.
Jacolby Satterwhite: We Are In Hell When We Hurt Each Other, 2020, HD color video and 3D animation with sound, screenshot © Jacolby Satterwhite. Courtesy of the artist and Mitchell- Innes & Nash, New York.

Bei so viel Interaktion mit Unbekanntem ist es beinahe erleichternd, dass die letzte Position der Ausstellung von Besucher*innen nicht mehr erfordert, als sich in einen Fat Boy vor einer Leinwand sinken zu lassen. Jacolby Satterwhite arbeitet zwar gerade an einem Game, so sagt man, fertig ist es jedoch nicht. So ist im HeK die Arbeit „We are in Hell when We Hurt Each Other“ zu sehen. Die virtuelle Welt wird durchtanzt von diversen Charakteren. „You’re not alone“, verspricht der Song, der die festivalartige Szenerie begleitet. „You know that love will find a way.“ Hoffnungsvoller kann einen das Utopien-Konglomerat „Radical Gaming“ nicht entlassen.

WANN: Die Ausstellung „Radical Gaming“ läuft bis zum 14. November.
WO: HeK – Haus der elektronischen Künste, Freilager-Platz 9, 4142 Münchenstein/Basel, Schweiz.

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