Malen in der Wüste
Lydia Ourahmane in der Fondation Louis Vuitton

4. November 2022 • Text von

Mit ihrer neuen Arbeit “Tassili” nimmt Lydia Ourahmane ihr Publikum mit auf eine Reise in die atemberaubende Wüstenlandschaft Südostalgeriens. Ganz nebenbei wirft sie dabei Fragen nach Bildzirkulationen in einer (neo-)kolonialen Weltordnung auf. Julian Volz macht sich anlässlich der Ausstellung in der Pariser Fondation Louis Vuitton in einem Essay Gedanken über Ourahmanes künstlerische Praxis.

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Lydia Ourahmane, Tassili, 2022. Video still. 4K video, 16mm transferred to video, digital animation, sound, 46:12 minutes.

Tassili n‘Ajjer ist ein von Felsenketten aus Sandstein geprägter Landstrich im Südosten Algeriens. Während das mehr als 2000 Kilometer von der Hauptstadt Algier entfernte Gebiet heute mitten in der Sahara liegt und Menschen nur sehr schwer zugänglich ist, herrschte dort vor einigen tausend Jahren noch ein feuchtes Savannenklima vor. Dementsprechend war es auch von Menschen und anderen Tieren bewohnt und bewirtschaftet. Ein eindrückliches Dokument von dem dortigen Leben in prähistorischen Zeiten legen mehr als 15.000 Malereien, Zeichnungen und Gravuren ab, die auf zahlreichen Felsen zu finden sind. In den Jahrtausenden vor unserer Zeitrechnung muss in dieser Gegend einiges los gewesen sein.

Die 1992 in Algerien geborene und in Großbritannien aufgewachsene Künstlerin Lydia Ourahmane hat sich für ihr aktuelles Projekt zusammen mit einem Team von Freund*innen und Mitstreiter*innen auf den Weg nach Tassili gemacht. Entstanden ist ein 46-minütiger Film, der als Installation im Ausstellungsraum präsentiert wird. Nachdem diese bereits in der ersten Jahreshälfte im New Yorker Sculpture Center ausgestellt wurde, ist sie nun in der Pariser Fondation Louis Vuitton zu sehen.

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Lydia Ourahmane, Tassili, 2022, Installationsansicht, Fondation Louis Vuitton, Paris. © Lydia Ourahmane. Foto: © Fondation Louis Vuitton / Marc Domage. // Lydia Ourahmane, Tassili, 2022, Installationsansicht, Fondation Louis Vuitton, Paris. © Lydia Ourahmane. Foto: © Fondation Louis Vuitton / Marc Domage.

Ich besuche die Fondation an einem Donnerstagvormittag und vor der Tür steht bereits eine riesige Schlange von bourgeois gekleideten Pariser*innen und gut betuchten Tourist*innen, die wohl für die Hauptausstellung „Claude Monet – Joan Mitchell“ gekommen sind. Als ich endlich die Galerie 8 erreiche, welche die Fondation jungen Positionen widmet, habe ich gefühlt bereits einen ähnlich beschwerlichen zurückgelegt Weg, als wäre ich selbst in eine abgelegene Wüstengegend gefahren. Ein Glück, dass Ourahmane sich dazu entschieden hat, ihren Film an die Decke des völlig abgedunkelten Raums zu projizieren. Während ich mich entspannt auf einem der Sitzkissen niederlege und in die entfernte Wüstenwelt eintauche, stellt sich das Gefühl ein, in der nächtlichen Sahara zu liegen und den Sternenhimmel zu beobachten.

Der Beginn des Films ist den Landschaften des Tassili gewidmet. Bereits diese sind mehr als spektakulär. Die Sandsteinfelsen sind stellenweise bis zu 2000 Meter hoch. Zwischen diesen hatte sich einst das Wasser durchgearbeitet und tiefe Furchen und isoliert stehende Felsenformationen hinterlassen. In dem Film sieht man Terrassen, hochaufragende Wände, vom Wind erodierte Felssäulen und Felsgassen, die wie ein Labyrinth wirken. Gelbbraun und gelbrötlich leuchten die Felsfarben, die Sandsteine und Mergelschiefer. Meist fliegt eine hochauflösende Drohnenkamera durch diese wahnsinnigen Landschaften oder jemand bewegt sich langsam mit der Kamera am Boden durch die Labyrinthe.

Anfangs werden die Bilder der Fels- und Höhlenmalereien nur ganz kurz zwischen die Aufnahmen der Landschaften geschnitten. Sofort taucht wieder eine Aufnahme einer Felsformation mit einer strahlenden Sonne im Hintergrund auf und man schaut ins Licht, als hätte man die Malereien der Rinderherden und Menschenansammlungen nur geträumt. Man fragt sich, wie Menschen jemals in einer solchen Landschaft gelebt und die Muße gehabt haben können, Zeichnungen auf den Fels anzubringen. Zunehmend konzentriert sich der Film auf diese Malereien. Schön zu beobachten sind dabei die über die Jahrtausende wechselnden Stile. Naturalistisch wirkende Rinderherden folgen auf tanzende und betende Menschen mit runden Köpfen ohne Hals, dann Jäger auf Krieger in römisch geprägten zweirädrigen Streitwägen.

Verstärkt wird der onirische Eindruck von den Landschaften und Malereien durch den Sound des Filmes. Ourahmane hat vier DJ‘s und Musikproduzent*innen, darunter auch Superstars wie Nicolàs Jaar, beauftragt, Stücke zu den Bildern der Landschaften zu kreieren. Die Künstlerin hat diese dann nacheinander und ohne Übergänge über den Film gelegt. Sehr gut geht dieses Konzept auf, wenn die Musik zurückhaltender ist und mit sphärischen und noisigen Kompositionen arbeitet. Sobald die Songs sich aber an klassischer House-Musik orientieren und langsam auf einen aus dem Club bekannten Klimax zusteuern, wird es sehr schnell kitschig. Ganz besonders ist dies der Fall, wenn diese Musik mit Bildern einer strahlenden Sonne und einem blauen Himmel kombiniert wird. Zum Glück überwiegen die sphärischen Stücke.

Diese schön anzusehende, auf der Naturschönheit des Tassili basierende Filminstallation verfolgt ein etwas anderes Konzept als die meisten der bisherigen Arbeiten Ourahmanes. Die Künstlerin ist bekannt dafür,  subtil die von Unabhängigkeits- und Bürgerkriegen sowie antikolonialen Hoffnungen geprägte Geschichte Algeriens des 20. Jahrhundert zu adressieren. Meist sind ihre Arbeiten geprägt von Prozessen des Transfers und der Übersetzung. Ganz in der Tradition der Konzeptkunst stehend ist es dann weniger die in der Galerie zu sehende Installation, aus der sich das Werk speist, sondern aus dem, was bereits davor vollzogen wurde.

Für ihre Abschlussarbeit an der Londoner Goldsmith Universität, „The third choir“ (2014/15), hat Lydia Ourahmane etwa 20 Rohölfässer von Algerien nach Großbritannien importiert. In der Installation sind neben den Fässern auch die knapp 1000 bürokratischen Dokumente zu sehen, die es brauchte, um die Fässer als Kunstwerk zu deklarieren und außer Landes zu bringen. Es war das erste Kunstwerk, das nach Algeriens Unabhängigkeit im Jahre 1962 legal in ein anderes Land exportiert wurde. Ein strenges Gesetz, das geschaffen wurde, um die Plünderung des kulturellen Erbes des Landes zu verhindern, untersagte bis dato jeglichen Export von Kunstwerken aus dem Land. Höchst raffiniert funktionierte Ourahmane für diese Arbeit eines der wichtigsten Exportgüter der algerischen Rentenökonomie in ein Kunstwerk um.

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Lydia Ourahmane, Barzakh, exhibition view, Triangle – Astérides, centre d’art contemporain, Friche la Belle de Mai, Marseille, 2021. © Aurélien Mole.

Die Ausstellung „Barzakh“ (2021) im Marseiller Kunstzentrum Triangle – Astérides beruhte ebenfalls auf dem Transfer von Objekten aus Algerien nach Europa. Für diese hatte Ouhramane das Interieur der Wohnung, in der sie in Algier lebte, und das sie von der Vorbesitzerin übernommen hatte, auf die andere Seite des Mittelmeers verfrachtet. Die Künstlerin präsentierte schwere Massivholzmöbel, die ganz deutlich an kleinbürgerliche Interieurs aus Europa erinnern. Wahrscheinlich haben die in der Installation zu sehenden Einrichtungsgegenstände während der Kolonialherrschaft Französ*innen gehört und wurden hastig zurückgelassen, nachdem der französische Kolonialismus besiegt und die ehemaligen Siedler*innen im Land nicht mehr gerne gesehen waren. Anschließend wurden sie von den neuen Nutzer*innen angeeignet und an die neuen gesellschaftlichen Kontexte angepasst.

Davon zeugt besonders eindrücklich die mit einem neunfachen Schloss gesicherte doppelte Eingangstür aus den Tagen des algerischen Bürgerkriegs. Während des zwischen 1991 und 2002 andauernden blutigen Konflikts zwischen der algerischen Militärregierung und der islamistischen „Islamischen Heilsfront“ (FSI) wurden auch viele Zivilist*innen, besonders Journalist*innen, Intellektuelle und Vertreter*innen der Zivilgesellschaft von den Islamisten ermordet. Sich so stark wie möglich in den eigenen Privaträumen zu verriegeln und einzuschließen, blieb eine der letzten Überlebensstrategien.

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Lydia Ourahmane, “Survial in the afterlife”, 2021, Eröffnung mit Yawning Portal, Portikus, Foto: Ian Waelder.

Dass auch ihr eigenes Leben grundlegend von diesem Bürgerkrieg geprägt ist, zeigte Ourahmane ebenfalls im vergangenen Jahr in ihrer Einzelausstellung „Survival in the afterlife“ im Frankfurter Portikus. Dort machte die Künstlerin ein umfangreiches Archiv von Fotografien zugänglich, das während ihrer Kindheit im Umfeld ihrer Familie entstand. Da diese einer christlichen Gemeinde in Algerien angehört, musste sie sich in den Jahren des Bürgerkriegs zusammen mit anderen Gemeindemitgliedern in geheimen Häusern verstecken. Im Portikus wurden diese privaten Fotografien, die von Enge und Angst aber auch von der Solidarität innerhalb der Gemeinschaft zeugen, durch ihre Öffentlichmachung und Verschiebung in einen westlichen Kunstkontext zum Ausdruck einer ganzen Epoche.

Doch auch mit ihrer aktuellen Installation „Tassili“ in der Pariser Fondation Louis Vuitton thematisiert Ourahmane Fragen des Transfers von einem geographischen und historischen Kontext in einen völlig verschiedenen. Gemeinhin gilt der französische Ethnologe Henri Lhote als der Entdecker der Felsmalereien aus dem Tassili. Nach einer ersten Expedition in den 30er Jahren war er 1956 und 1957, also mitten während algerischen Unabhängigkeitskriegs (1954 -1962), ganze 15 Monate lang zusammen mit einem lokalen Führer und einem Team aus Malern, Fotografen und Vermessern in dem Gebiet unterwegs, um die Felsmalereien abzupausen. Anschließend wurde sie auf Gouache übertragen und im Musée des Arts décoratifs in Paris ausgestellt.

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Gedruckte Fotos aus “House of Hope Archives” (1989–fortlaufend) von Lydia Ourahmane

Während die Malereien viele tausend Jahre von der Wüste bestens präserviert wurden, führte Lhotes Tat zu Beschädigungen. Denn um die Felszeichnungen abpausen zu können, musste er sie erst befeuchten, was Teile der Farbe vom Felsen löste. Der Akt von Lhotes vermeintlicher Entdeckung beruhte also hauptsächlich darauf, diese Bilder in die westliche Kulturindustrie einzuspeisen. Gedankt wurde ihm seine Mission, die ohne die französische Kolonialherrschaft über Algerien in dieser Form nicht möglich gewesen wäre, unter anderem mit einem Führungsposten in einem Pariser Museum.

Ihre Praxis der Einspeisung von aus Algerien stammenden Gegenständen und Kulturgütern in das westliche Kunstsystem verfolgte Ourahmane also auch mit der Arbeit „Tassili“ weiter. Dennoch, ob gewollt oder nicht stellt sie sich, indem sie die im Tassili aufgenommenen Bilder in eine, in der Hauptstadt der ehemaligen Kolonialmacht gelegenen, finanzstarken Kunstinstitutionen transferiert, in die Tradition von Lhote. Anders als dieser beschädigte sie die Felszeichnungen nicht, sondern hielt sie zum ersten Mal überhaupt in hochauflösenden 4K-Bildern und animierten 3D-Scans fest.

Im nächsten Jahr wird ihre Filminstallation an gleich zwei Orten im Maghreb zu sehen sein. Geplant sind sowohl Ausstellungen bei Rhizome in Algier als auch in der B7L9 Art Station in Tunis. Auch dies ist ein Novum, denn in den Zeiten des Kolonialismus war der Genuss der Felsenmalereien wohl allein der französischen Bevölkerung vorbehalten. Durch diesen Einbezug nordafrikanischer Kunstinstitutionen, die gleichzeitig als Koproduzenten der Installation fungieren, gelingt es Ourahmane althergebrachte koloniale Machtverhältnisse im kulturellen Bereich zumindest im kleinen Maßstab zu nivellieren.

WANN: Die Ausstellung “Tassili” von Lydia Ourahmane läuft bis zum 23. Januar 2023.
WO: Fondation Louis Vuitton, 8 Avenue du Mahatma Gandhi, 75016 Paris.

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