Kann man das so stehen lassen?
Schaufensterdiskurs bei SYNNIKA

11. November 2020 • Text von

Ein wenig versteckt im Frankfurter Bahnhofsviertel befindet sich der Ausstellungsraum SYNNIKA. Die aktuelle Schau thematisiert Queerness in arabischen Gesellschaften. Ein Zitat an der Fensterscheibe spaltet Passant*innen.

Außenansicht des Ausstellungsraums SYNNIKA, wo derzeit die Ausstellung "MITHLY" zu sehen ist.
Außenansicht des Ausstellungsraums SYNNIKA, wo derzeit die Ausstellung “MITHLY” zu sehen ist. Foto: SYNNIKA.

Auf dem Fenster des Ausstellungsraums SYNNIKA steht auf Französisch und auf Arabisch ein Satz, den nicht alle Passant*innen so stehen lassen können. “Nous sommes plus de 343 salopes. Nous nous sommes faits enculer par des arabes. Nous en somme fières et nous recommencerons. Discutons en avec les camarades arabes.” Auf Deutsch heißt das: „Wir sind mehr als 343 Schlampen. Wir haben uns von Arabern in den Arsch ficken lassen. Wir sind stolz darauf und wir würden es wieder tun. Diskutiert darüber mit den arabischen Genossen.“

Die Ausstellung „MITHLY“ thematisiert Queerness in arabischen Gesellschaften mit Arbeiten von Julian Volz und Soufiane Ababri. Wir haben bereits mit Julian Volz darüber gesprochen. Aber der Schriftzug im Fenster verdient noch einmal besondere Aufmerksamkeit, denn er illustriert ein Moment, in dem sich die Kunst zur Straße öffnet und auch diejenigen erreicht, die nicht vorhatten, sich mit ihr auseinanderzusetzen. SYNNIKA ist ein experimenteller Raum für Praxis und Theorie im Frankfurter Bahnhofsviertel. Im Erdgeschoss des NIKA.haus, einem laut Website „selbstverwalteten und unverkäuflichen Wohnhaus mit dauerhaft bezahlbaren Mieten“, möchte man mit ganz unterschiedlichen Menschen in Kontakt kommen. Und das tut man auch.

Videostill von Julian Volz, Buntstiftzeichnung von Soufiane Ababri.
Julian Volz: “Mithly”. Courtesy of the artist. // Soufiane Ababri: “Bedwork”. Courtesy of the artist & Praz-Delavallade Paris, Los Angeles.

„Die Reaktionen auf die Schaufensterbeschriftung waren über den Ausstellungszeitraum sehr ambivalent“, erzählt Naomi Rado, Kunsthistorikerin und Vorstandsmitglied von SYNNIKA. „Fast immer gingen sie aber mit einer direkten Kontaktaufnahme einher und das ist, wie ich finde, erstmal gut, denn wir begrüßen den Austausch sowohl mit dem Interessierten als auch dem, ich nenne es mal, ‚spontanen‘ Publikum.“ Eine Person musste sie wegschicken. „Sie regte sich vor dem Fenster unglaublich auf, kam schließlich in den Raum und wollte mir aufdringlich ihren Standpunkt klarmachen. Der bestand – leider kein Scherz – aus purer Verschwörungsideologie: Die Erde sei eine Scheibe. Wir alle kämen in die Hölle, was wir hier zeigten, sei böse.“ Rado versuchte, ruhig zu bleiben. Mehrmals musste sie die Person bitten, zu gehen.

Aber nicht immer werden die Leute ausfallend. Menschen bleiben vor der Scheibe stehen, lesen den Text, schauen sich um und verabschieden sich dann mit ausgestrecktem Daumen von außen durchs Fensterglas. Oder sie fragen nach einem Flyer und bedanken sich für die Arbeit von SYNNIKA. “Sogar eine pädagogischere Funktion wurde der Ausstellung attestiert und es wurde immer wieder betont, wie wichtig es ist, diese Positionen zu zeigen”, so erzählt Rado. “Nicht nur trotz sondern gerade weil sie so polarisieren.”

Besonders jüngere, männliche Personen nähmen den Satz allerdings als Anlass für sexualisierte Gesten durch das Fenster, so Rado. „Sie waren distinktiv an mich als Frau adressiert“, sagt sie. „‚Wir sind 343 Schlampen‘ kann in dem Satz genderneutral gelesen werden. Die Deutung auf Homosexualität entsteht erst in der Referenzialität des Ausspruchs zu den ausgestellten Arbeiten von Julian und Soufiane.“

Der Satz des FHAR auf algerischem Arabisch und auf Französisch sowie ein Still der Videoarbeit "Mithly" von Julian Volz.
Julian Volz: “Mithly”. Courtesy of the artist.

Julian Volz nennt den Satz an der Scheibe ein Minimanifest. Er ist von der radikalen französischen Homosexuellengruppe „Front homosexuel d’action révolutionnaire“ (FHAR) aus dem Frühjahr 1971 und nimmt Bezug auf ein feministisches Manifest in der Zeitschrift „Le Nouvel Observateur“ aus dem selben Jahr, das „Manifeste des 343“. Damit wurde in Frankreich die Debatte über die Legalisierung der Abtreibung entfacht – ähnlich in Deutschland mit der Stern-Titelgeschichte „Wir haben abgetrieben!“. „Wird der ‚Nouvel Observateur‘ auch dies abdrucken?”, heißt es im Originaltext des FHAR weiter. Laut Volz wirft das die Frage auf, „ob man, indem man die homosexuellen Praktiken mit Arabern öffentlich macht, nicht gar ein größeres Tabu durchbricht, als die Feministinnen mit der Öffentlichmachung der Abtreibung“.

Ob der FHAR die feministische Bewegung parodiert oder damit deutlich machen will, dass er einen ähnlichen Kampf führt, lässt Volz offen. Er erklärt, der FHAR habe sich mit diesem Manifest im antikolonialen Kampf auf die Seite der algerischen Volksbefreiung einreihen und eine ganz besondere Solidarität und Nähe schwuler Männer mit dieser nahelegen wollen. All das erschließt sich Passant*innen im Vorbeigehen natürlich nicht. Volz zeigt sich dennoch überzeugt vom diskursiven Potenzial der Worte, die er von einem Freund ins algerische Arabisch übersetzen lassen und an die Fensterscheibe geplotet hat: „Ich denke, dass diese Sätze ganz dankbar sind, weil sie erstmal irritieren und hoffentlich zur Weiterbeschäftigung mit dem Thema anregen.“

Naomi Rado von SYNNIKA moderiert einen Talk zwischen dem Soziologen und Historiker Antoine Idier und dem Kurator Julian Volz
Naomi Rado von SYNNIKA moderiert einen Talk zwischen dem Soziologen und Historiker Antoine Idier (l.) und dem Kurator Julian Volz anlässlich der Vernissage von “MITHLY”. Foto: SYNNIKA:

„Durch die Umkehrung der Rollen – die Franzosen lassen sich ficken – wollten sie zudem die klassische koloniale Rollenaufteilung, bei der ja ansonsten die Kolonialisierten die Passivisierten sind, subversiv unterlaufen“, so Volz. Trotz dieser Absichten schreibe sich das Manifest natürlich dennoch in bestehende rassistische und koloniale Klischees ein. Volz audiovisuelle Installation „Mithly“ zeigt unter anderem den Soziologen und Historiker Antoine Idier, wie er die gesellschaftlichen und historischen Hintergründe erklärt, unter denen das Manifest entstand.

Wie aber überträgt sich denn nun die Irritation an der Scheibe auf das Geschehen im Ausstellungsraum? „Es gab einen regen Austausch mit dem Publikum. Die Rückmeldungen waren überwiegend positiv. Es lässt sich schon sagen, dass der Drang auf Diskussion oder Konfrontation eher vonseiten der Kritiker:innen kam“, berichtet Rado. Ihr ist eine der letzten Begegnungen besonders in Erinnerung geblieben. „Wir hatten geschlossen und ich arbeitete alleine im Raum. Es war schon spät, als plötzlich zwei Männer an die Scheibe klopften.“ Sie forderten Rado auf, die Tür zu öffnen – es sei dringend. Schließlich öffnete sie. Die Männer baten sie, das Manifest zu übersetzen.

Julian Volz: “Mithly”. Courtesy of the artist.

 „Auf meine Ausführung hin war einer der beiden deutlich aufgebracht, fragte mich, ob es überhaupt legal sei, dass wir die ‚arabische Kultur‘ in dieser Weise angreifen, wie wir überhaupt darauf kämen, uns dieses Thema anzueignen“, erzählt Rado. „Ich versuchte klarzumachen, dass es uns nicht darum geht, stellvertretende Annahmen zu treffen, sondern die Kulturschaffenden vor Ort in den Videos zu ihrer jeweils eigenen Situation sprechen zu lassen.“ Gehör fand sie damit kaum. Man habe lange diskutiert, schließlich sei man dennoch friedlich auseinandergegangen. Auf dem Heimweg habe sie sich Sorgen gemacht, der Raum könnte beschädigt werden, so Rado. „Dass die Fensterfront eingeschlagen werden könnte, war jedenfalls als Gedanke die komplette Ausstellungsdauer präsent.“

WANN: Die Ausstellung „MITHLY“ läuft noch bis Sonntag, den 15. November. Bis dahin könnt ihr Termine für eine Einzelbesichtigung vereinbaren.
WO: SYNNIKA, Niddastraße 57, 60329 Frankfurt am Main.

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