Doch viel ist mir bewusst! Amelie von Wulffen bei Fitzpatrick in Paris
2. Juni 2023 • Text von Teresa Hantke
Courbets Realismus trifft auf Berliner Straßenszenen, während Adolf Menzels Malstil sich in den Porträts skandalträchtiger Persönlichkeiten wiedererkennen lässt. In ihrer Einzelausstellung “Des Pudels Kern” verbindet die deutsche Malerin Amelie von Wulffen Eindrücke ihrer Umgebung im ehemaligen Osten der deutschen Hauptstadt, Ideen französischer Freilichtmalerei und Reflexionen über ihre familiäre Herkunft.
Kaum ist man durch die gläserne Eingangstür der Fitzpatrick Galerie im Pariser Marais getreten, steht man mitten in von Wulffens Installation, die den gesamten unteren Raum der Galerie einnimmt. Eine aus Pappmaché gefertigte Skulptur sitzt vornübergebeugt über einem Holztisch und schreibt gedankenversunken einen Brief. Eingekleidet in einem gelben Kleid, mit weißen Enden und einem blauen Haarband handelt es sich um die kürzlich verstorbene Mutter der Künstlerin, die an ihren Ehemann folgende Zeilen verfasst: “Mon amour, mon général, ich mache mir solche Sorgen…”
Wulffen, 1966 in Breitenbrunn geboren und an der Akademie der Bildenden Künste in München bei Olaf Metzel studiert, hat hier eine durchaus intime Situation kreiert – man fühlt sich als Eindringling in den Haushalt, in das Gedankenleben der Familie der Künstlerin. Verstreut um die sitzende Mutter der Künstlerin hat von Wulffen leere Pralinenschachteln verteilt, ein chaotisches Durcheinander, hervorgerufen durch eine Anzahl mit Muscheln beklebter kleiner Figuren – ein krabbelndes Etwas, ein rosa Schweinchen, eine Figur mit Katzengesicht. Stellvertretenden für das Ungestüme, ihres kindlichen Ichs, das um die Aufmerksamkeit der Mutter buhlt. Wie auch in vergangenen Werken reflektiert die Künstlerin die oft unergründlichen Ausmaße familiärer Verstrickungen.
Der wohl zeitnahe Tod ihrer beider pflegebedürftiger Eltern, wie die Künstlerin in dem begleitenden Ausstellungstext preisgibt, hat für niemanden der betroffenen Familienmitglieder angenehmes Geheimnis – von Wulffen nach “Des Pudels Kern” für alle Ungereimtheiten, um es mit Goethe auszudrücken – zum Vorschein gebracht hat. Neben diesen emotionalen Untiefen, der Abhängigkeit familiärer Vergangenheiten, aber auch dem Lossagen davon, sind es kollektive, gesellschaftliche Thematiken, die Künstlerin in der Pariser Ausstellung reflektiert. Der Krieg in der Ukraine, subtil erkennbar in dem gelben und blauen Outfit der schreibenden Mutter, genauso “Klimaveränderung, Seuche und (…) der Zusammenbruch des Friedens zwischen den alten Blöcken”, wie Wulffen angibt.
Dass nach wie vor noch alles vorhanden ist und friedlich, fast beängstigend friedlich erschient, thematisiert von Wulffen in einer Serie von Berliner Bildern. Kitschige Auslagen in Geschäften, dahinter die noch erhaltene Gründerzeit-Architektur von Berliner Wohnhäusern, gemischt mit den eher tristen Fassaden von Neubauten. Ästhetische Gegensätze, die die Künstlerin vor Augen führt und gleichzeitig die fortschreitende Einnahme neoliberalen Denkens und Konsumwahns im ehemaligen kommunistischen Ostens zum Sujet macht. Ein Leuchten und kitschiges Bling-Bling, welches in der französischen Hauptstadt schon ein Jahrhundert zuvor in den leuchtenden Boulevards der französischen Impressionisten wie Degas oder Manet erscheint.
Letztere reiht die Künstlerin in einem Porträt gemeinsam mit Courbet, Cèzanne und weiteren impressionistischen Malern vor einer schimmernden Pariser Straßenfront auf. Das künstliche Flirren, leuchtende Schaufenster, die die Künstlerin ins Zeitgenössische, in das heutige ebenfalls vom Konsum überladene Paris übersetzt. Zwar stehen keine Topfpflanzen wie in den Berliner Bildern in den Vitrinen, es handelt sich vielmehr um modische Accessoires oder feine Patisserie – metaphorisch für ein elegantes Paris stehend.
Es ist ein Eklektizismus an malerischen Stilen – Wulffen bedient sich dem Realismus deutscher Maler wie Menzel genauso wie an den flirrenden, neoimpressionistischen Straßenszenen von Seurat. Es ist ein Aufeinandertreffen von zeitgenössischen Sujets, deutscher Vergangenheit, Intimitäten, und dem jüngst entdeckten Geheimnis in ihrer Familie – so könnte man Goethes Faust auch hier heranziehen: “Allwissend bin ich nicht; doch viel ist mir bewusst.” Eine reiche Erzählung, die Wulffen in Paris skulptural wie zweidimensional verarbeitet und den Pudels Kern trotzdem gekonnt verschleiert lässt.
WANN: Die Ausstellung “Des Pudels Kern” läuft bis Samstag, den 24. Juni.
WO: Fitzpatrick Galerie, 123 Rue de Turenne, 75003 Paris.