Von Mauern und Vögeln
Massinissa Selmani in der Selma Feriani Galerie

12. Oktober 2022 • Text von

Der Künstler Massinissa Selmani beschäftigt sich mit Prozessen der Verflüssigung und der Einhegung. Die Selma Feriani Galerie im tunesischen Sidi Bou Saïd zeigt seine Arbeiten in der Ausstellung „On a Rock, a Brief Circle of Sun“. (Text: Julian Volz)

massinissa selmani selma feriani gallerytalk Ce qui precede   JPEG HD
Massinissa Selmani: Ce qui précède (triptych). Graphite and colored pencil on paper, 40.5 x 34.5 each. 2022. © ADAGP Paris. Courtesy of the artist and Selma Feriani Gallery.

Alle Seitenstraßen entlang der Demonstrationsroute sind mit meterhohen Absperrgittern abgesperrt – wer schon mal in Frankreich auf einer Demonstration war, kennt das Bild vielleicht. Vorrangig macht die Polizei dies in Zeiten, in denen soziale Bewegungen besonders aktiv sind. Die Ordnungskräfte bezwecken damit offensichtlich das Ziel, nicht die Kontrolle über die Demonstration zu verlieren. Meist hat dies dann aber doch nur zur Folge, dass die Demonstrierenden einfach die Bushaltestellen, Werbeschilder und Schaufenstern entlang der eingehegten Demonstrationsroute mit Steinen traktieren.

Auch hierzulande sind solche Absperrgitter beliebt, allerdings meist in abgespeckter, hüfthoher Version als Hamburger Gitter bei Polizei, Militär und anderen mit der Aufrechterhaltung der Ordnung betrauten Berufen. Scheinbar unkontrollierbare, in alle Richtungen ausströmende, also sich deterritorialisierende Massen sollen so unter Kontrolle gehalten werden, sei es auf Demonstrationen, vor Fußballstadien oder auch an den Landesgrenzen. Auch Steine werden traditionell eingesetzt, um Territorien zu markieren und diese einzugrenzen. Sowohl beim Absperrgitter als auch beim Stein handelt es sich offensichtlich um ein Symbol der Einhegung und der Kontrolle, oder mit anderen Worten der Reterritorialisierung.

massinissa selmani selma feriani gallerytalk
Massinissa Selmani: Into. Photocopy on paper, graphite on tracing paper, colored pencil on paper 42 x 29.7 cm, 2022. © ADAGP Paris. Courtesy of the artist and Selma Feriani Gallery. // Massinissa Selmani: Aire. Photocopy on paper and tracing paper, graphite and colored pencil on paper and tracing paper 29.7 x 21 cm, 2022. © ADAGP Paris. Courtesy of the artist and Selma Feriani Gallery.

In seiner Einzelausstellung „On a Rock, a Brief Circle of Sun“ in der im mondänen tuniser Vorort Sidi Bou Saïd gelegenen Selma Feriani Galerie beschäftigt sich der franko-algerische Künstler Massinissa Selmani eingehend mit diesen beiden Bewegungen der Deterritorialisierung und der Reterritorialisierung. Gleich zu Beginn der Ausstellung stößt man auf eine gerahmte Zeichnung mit dem Titel „Into“. Die Mitte des Bildes bildet eine kopierte Fotografie eines Steines. Direkt anschließend an den Stein befindet sich eine auf transparentes Zeichenpapier gemalte Hälfte eines Hamburger Gitters. Unter dieses doppelte Motiv der Einhegung hat der Künstler eine Handvoll roter Fluchtlinien gezeichnet, die zu den Betrachtenden führen, und auch horizontal führen grüne und rote Linien aus dem Bild heraus.

Direkt neben diesem Bild wirft ein Videoprojektor eine Animation an die Wand. In dieser fliegt ein Vogel in einem großen Bogen durch die Luft und landet anschließend in seinem Vogelhäuschen, das direkt an eine lange und hohe Mauer anschließt. An der Hinterseite des Hauses scheint ein Loch durch die Mauer zu führen und so fliegt der Vogel seinen kreisrunden Bogen einfach weiter. Kopfüber fliegt er zurück über die Mauer weiter durch das Häuschen, durch die Mauer und so weiter und so fort.

massinissa selmani selma feriani gallerytalk  G4A1120
Installationsansicht „On a Rock, a Brief Circle of Sun“, Selma Feriani. © ADAGP Paris. Courtesy of the artist and Selma Feriani Gallery.

Bereits diese beiden ersten Kunstwerke markieren mehr als deutlich das Thema, das Selmani in der Ausstellung in einer ganzen Reihe von Motiven und Formen durchdekliniert. In seinen Arbeiten treffen eine Vielzahl von Symbolen der Enterritorialisierung und der Verflüssigung wie Schatten, Wolken, Winde, Horizonte, Flugzeuge, Vögel oder Paddel auf solche der Reteritorrialisierung wie Mauern, Absperrgitter, Häuser, Bäume, Polizeikontrollen oder der Einhegung eines (nationalstaatlichen) Territoriums wie Statuen, Steine und Flaggen. Selmani lässt diese gegensätzlichen Symbole in seinen Zeichnungen aufeinanderprallen und schafft so unwirkliche Szenen.

Diese Herangehensweise, aus realistischen Elementen surrealistische Bilder zu erschaffen, erinnert dabei stark an das Vorgehen der belgischen Surrealisten, wie René Margritte oder Paul Nougé, den Selmani im Gespräch als einen seiner wichtigsten Einflüsse nennt. Verstärkt wird das onirische Element der in der Ausstellung zu sehenden Arbeiten durch die radikale Entkontextualisierung der Bilder.

massinissa selmani selma feriani gallerytalk Une profondeur de ciel et de chemins 3   JPEG HD
Massinissa Selmani: Une profondeur de ciel et de chemins #3. Graphite and colored pencil on paper 55 x 70 cm, 2022. © ADAGP Paris. Courtesy of the artist and Selma Feriani Gallery.

Der Künstler lässt auf seinem Zeichenpapier viel Platz für das Weiß und konzentriert sich ganz auf die einzelnen Elemente und Figuren, die dadurch auf einer einzigen Konsistenzebene angesiedelt zu sein scheinen. Dies lässt den Zusammenprall der aus zwei entgegengesetzten Bewegungen stammenden Motive in seinen reduzierten Montagekompositionen nur umso intensiver wirken. Das Spiel des Künstlers mit ungewöhnlichen Verbindungen scheint die Agenten der Reterritorialisierung aus dem Gleichgewicht zu bringen, oder wie es in „Tausend Plateaus“ von Gilles Deleuze und Fèlix Guattari heißt: „Ein kräftiger Strang verselbstständigt sich, eine halluzinatorische Wahrnehmung, eine Synästhesie, eine perverse Mutation, ein Zusammenspiel von Bildern reißt sich los, und schon ist die Vorherrschaft des Signifikanten in Frage gestellt.“

Begibt man sich nach den ersten beiden Arbeiten nach rechts in den nächsten Raum, so trifft man gleich wieder auf den Stein und die mit ihm verbundene Hälfte eines Absperrgitters, diesmal aber in skulpturaler Form. Das Motiv hätte sich sicherlich dazu geeignet, es als riesige Plastik in den Raum zu stellen. Eine solche würde den Besucher*innen den Weg versperren und ganz physisch das Gefühl der Festsetzung evozieren. Selmani wählt für seine Ausstellung aber lieber die entgegengesetzte, ungleich zurückhaltendere Herangehensweise.

massinissa selmani selma feriani gallerytalk  G4A1124
Installationsansicht „On a Rock, a Brief Circle of Sun“, Selma Feriani. © ADAGP Paris. Courtesy of the artist and Selma Feriani Gallery.

Der Künstler präsentiert die Skulptur in kleinem Format auf einem Tisch, wo sie Teil einer installativen Konstellation wird. Rechts von ihr steht ein Videoprojektor auf dem Tisch, der eine weitere Animation an die Wand wirft – ein fliegender Vogel ist über eine Konstruktion mit einer in der Luft hängenden Statue verbunden – und links von ihr ist eine gerahmte Zeichnung an die Wand gelehnt – ein schmaler, halbkreisförmiger Bogen trifft auf eine Wolke und das Wort „WITH“.

Die Zeichnung ist unübersehbar das Leitmedium von Selmanis künstlerischer Arbeit. Sie passt zu seiner bescheidenen, aber doch sehr direkten Form der Kunst, die sich auch in der reduzierten Farbgestaltung spiegelt. Wie er in der Ausstellung mehr als deutlich macht, beherrscht er es, die Methode der Zeichnung auf eine Reihe anderer Medien wie der Videoanimation und der Skulptur zu übertragen und so ganze Installationen aus ihnen zu schaffen.

massinissa selmani selma feriani gallerytalk Massinissa Selmani   On a rock, a brief circle of sun   Selma Feriani Gallery   inst view 3 1
Installationsansicht „On a Rock, a Brief Circle of Sun“, Selma Feriani. © ADAGP Paris. Courtesy of the artist and Selma Feriani Gallery.

Auch bereits in früheren Projekten vermochte der 1980 in Algier geborene und heute im französischen Tours lebende Selmani unter Beweis zu stellen, dass er ausgehend von Zeichnungen installativ und hochpolitisch arbeiten kann, ohne auf bombastische Effekten zurückgreifen zu müssen. Als der Künstler 2015 von Okwui Enwezor zur Teilnahme an der Hauptausstellung der Venedig Biennale eingeladen wurde, präsentierte er eine aus Notizbuchzeichnungen bestehende dokumentarische Installation mit dem Titel „1.000 Villages“.

Mit dieser Arbeit näherte sich Selmani einem von der algerischen Regierung zu Beginn der 1970er Jahre angestoßenen Programm zur sozialistischen Umgestaltung des ländlichen Raums an – auch dies im Grunde eine wahnsinnige Bewegung der De- und Reterritorialisierung. Das letztlich gescheiterte und heute größtenteils vergessene Regierungsprojekt sollte Wege finden, um der ruralen Bevölkerung das während des Kolonialismus enteignete Land zurückzugeben und sie vermittels von 1.000 ruralen Plandörfern aus ihrer Isolierung zu reißen. Selmani hat Zeitungsberichte aus den 70er Jahren studiert, Bilder aus diesen in seinen Notizbüchern reproduziert, sie mit neuen Unterschriften versehen und die Notizbuchseiten um Zeichnungen ergänzt.

massinissa selmani selma feriani gallerytalk Massinissa Selmani   On a rock, a brief circle of sun   Selma Feriani Gallery   inst view 13
Massinissa Selmani: Untitled #3, 2022. Graphite and colored pencil on tracing paper 42 x 29.7 cm, 2022. © ADAGP Paris. Courtesy of the artist and Selma Feriani Gallery. // Installationsansicht „On a Rock, a Brief Circle of Sun“, Selma Feriani. © ADAGP Paris. Courtesy of the artist and Selma Feriani Gallery.

So immanent Selmani seine Kompositionen in der Ausstellung in Tunis auch entwickelt, so gesättigt von Realität und entsprechend politisch sind sie. Deutlich wird dies etwa in einer Reihe von in der Ausstellung gezeigten Arbeiten, für die er Pressefotografien zu Grunde gelegt und diese durch Hinzufügen von Zeichnungen neu kontextualisiert hat. So ergänzt er die Fotografie einer nordafrikanisch anmutenden Landschaft etwa um eine weiße Flagge sowie einen sich dynamisch fortbewegenden jungen Mann, der nur noch mit einem Teil seines rechten Beins das fotokopierte Bild berührt. Der restliche Körper befindet bereits in der weißen Fläche, von welcher die Arbeit dominiert wird.

Läuft man mit Selmanis Bildern im Kopf durch das auf einer hohen Klippe über dem Mittelmeer gelegene Sidi Bou Saïd, so wirken diese auf einmal viel weniger als einer fremden Traumwelt entstammend. Der Ort gibt den Blick auf das Meer und den Horizont frei. Alles riecht nach Aufbruch und neuen Ufern. Sizilien ist von hier gerade mal 200 Kilometer Luftlinie entfernt. Doch auch die Agenten der Versteinerung und Verfestigung von Grenzen in Form der Mörderbande Frontex lauern dicht hinter dem Horizont.

WANN: Die Ausstellung „On a Rock, a Brief Circle of Sun“ läuft Sonntag, den 13. November.
WO: Selma Feriani Galerie, 8 Place Sidi Hassine, Sidi Bou Said 2026, Tunesien.