Zusammen fragil
"Protection Procedures" im Studio Peragine

6. Dezember 2022 • Text von

Wie kann ein post-pandemisches Zusammenleben aussehen? Die Gruppenausstellung “Protection Procedures” im Ausstellungsraum Studio Peragine versammelt Installationen, Skulpturen, Fotografien und Videoarbeiten von 13 Künstler*innen. Mit Verweisen zu queerer, feministischer und antikapitalistischer Theorie thematisieren die Beiträge verschiedene Formen von Macht und Ohnmacht.

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Protection Procedures, Installationsansicht, Studio Peragine, Hamburg, 2022. Foto: Fred Dott.

In ihren gesellschaftlichen, kulturellen und persönlichen Dimensionen hat die Covid-19-Pandemie eins vor Augen geführt: unsere Verletzlichkeit. Es ist ein anhaltender Ausnahmezustand, der durch die Auswirkungen der Pandemie und internationaler Krisen auf die Arbeitsbedingungen von Kunst- und Kulturschaffenden einwirkt. Im Kontext dieser Notlage initiierte die in Hamburg lebende Künstlerin Alice Peragine das Ausstellungsprojekt “Protection Procedures – Gathering and Exhibition”. 

In ihrer Recherche zum Projekt war Peragine inspiriert von dem Buch “Post/pandemisches Leben” und der darin beschriebenen neuen Theorie der Fragilität des Autor*innen-Duos María do Mar Castro Varela und Yener Bayramoğlu. In ihrem Buch plädieren die beiden im Sinne der sozialen Gerechtigkeit dafür, dass vor allem das Beachten und Akzeptieren von strukturell verstärkten und politisch gestützten Vulnerabilitäten im Vordergrund stehen muss.

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Protection Procedures, Installationsansicht, Studio Peragine, Hamburg, 2022. Foto: Fred Dott.

Für den ersten Akt des Projekts “Gathering” lud Peragine die beteiligten Künstler*innen zu einem mehrtägigen Zusammentreffen in ihrem Atelier in der Hamburger Hafen City ein. In Input-Vorträgen, unter anderem von María do Mar Castro Varela selbst, und Arbeitsbesprechungen bearbeiteten sie gemeinsam die Frage: „Wie können künstlerische und kulturelle Praktiken zu Kämpfen beitragen, die dringend geführt, gefühlt und gehandelt werden müssen?“ 

Die anschließende Ausstellung zum zweiten Akt von “Protection Procedures” im Ausstellungsraum Studio Peragine präsentiert die künstlerisch-forschenden Positionen der teilnehmenden Künstler*innen. Sie ist eine kritische, vielschichtige, sowie gleichzeitig sensible Betrachtung über unser gesellschaftliches Zusammenleben und zeigt verschiedene Beiträge zu Macht und Ohnmacht, Schutz und Widerstand

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Katja Pilipenko, ARGUMENTS, 2021, Protection Procedures, Studio Peragine, Hamburg, 2022. Foto: Fred Dott.

Einer dieser Beiträge stammt von der in Moskau geborenen Künstlerin Katja Pilipenko. Diese setzt sich in ihrer künstlerischen Praxis mit vermittelten Wahrheiten, Sprache und Wahrnehmung, sowie politischen Ideologien auseinander. Die drei Skulpturen ihrer Arbeit “ARGUMENTS” sind den tatsächlichen, gleichnamigen Schlagstöcken nachempfunden, die von der russischen Polizei verwendet werden.

Die Arbeit zeigt, wie die repressive Beziehung von Staat zu Volk anhand von Sprache sichtbar wird: Die Benennung verweist auf das sprachliche Mittel, mit dem man seinen Gegenüber zu überzeugen versucht – und manipuliert somit zu der Annahme, dass die dadurch angewandte Gewalt legitim sei.

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Cornelia Herfurtner, Was ist eine Waffe? (Detail) Schild des Schutzes (Overalls), 2022, Protection Procedures, Studio Peragine, Hamburg, 2022. Foto: Fred Dott. // Alice Peragine, I Am Here to Protect You, 2019, Protection Procedures, Studio Peragine, Hamburg, 2022. Photo: Fred Dott.

Mit dem staatlichen Monopol auf legitime Gewaltausübung beschäftigt sich auch Cornelia Herfurtners mehrteilige Installation “Was ist eine Waffe?”. Die in Holz gemeißelten Reliefs zeigen ganz unterschiedliche, alltägliche Gegenstände, die laut deutscher Rechtsprechung bereits als Waffe ausgelegt worden sind – wie beispielsweise einen Fahrradhelm oder Handschuhe.

In ihren arrangierten Stilleben thematisiert Herfurtner die Kriminalisierung sogenannter Schutzwaffen, also Objekte, die von Menschen bei öffentlichen Demonstrationen getragen und von der Polizei als Waffen ausgelegt werden können. Die Installation kann als Zeug*in bundesdeutscher Geschichte gesehen werden. Im Kontext der Ausstellung beleuchtet sie Momente des kollektiven Suchens nach Sicherheit.

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Protection Procedures, Installationsansicht, Studio Peragine, Hamburg, 2022. Foto: Fred Dott.

À propos Sicherheit: Die Initiatorin des Ausstellungsprojekts Peragine setzt sich in ihrer künstlerischen Forschung mit Schutztechnologien auseinander. In ihren Performances und Installationen konzentriert sie sich auf Materialien, die in der Mobilitäts- und Sicherheitsindustrie verwendet werden.

In „Protection Procedures“ zeigt sie die Forschungsergebnisse ihrer Zusammenarbeit mit dem Institut für Leichtbau und Kunststofftechnik an der Technischen Universität Dresden. Ihre Installation „I Am Here To Protect You“ ist eine nachempfundene Krankentrage aus Kohlenstofffasergewebe und Holz. Die Arbeit ist eine ästhetische Untersuchung zu Materialien des Schutzes und reflektiert auf poetischer Weise das Verhältnis von schützender Technologie, dem menschlichen Körper und gegenseitiger Fürsorge.

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Zoë Claire Miller, Tintinnabuli, 2022, Protection Procedures, Studio Peragine, Hamburg, 2022. Foto: Fred Dott.

Der meist weiblich-gelesene Körper ist auch Betrachtungsgegenstand der Berliner Künstlerin und Aktivistin Zoë Claire Miller. In vergangenen Ausstellungen arbeitete sie mit Themen wie der Legende der Heiligen Agnes, die sie als „Schutzpatronin der MeToo-Bewegung“ bezeichnet. In “Protection Procedures” zeigt sie eine 5-teilige Skulpturserie aus glasiertem Steingut, die formal einem Windspiel ähnelt. Die Skulpturen sind menschlichen Penissen nachempfunden und jeweils mit kleinen Flügeln, Kugeln und Glöckchen versehen.

Durch die comichaft verzerrten Größenverhältnisse bekommen die “Tintinnabuli” eine humoristische Komponente und verwehren sich binären oder patriarchalen Zuschreibungen. Die Arbeit kann als augenzwinkernder, empowernder Beitrag gelesen werden, dennoch: Indem Miller menschliche Körperteile referiert und diese als Medium nutzt, untersucht sie in ihren Figuren die Beziehungen zwischen Körper, Ästhetik und Politik.

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Protection Procedures, Installationsansicht, Studio Peragine, Hamburg, 2022. Foto: Fred Dott.

“Protection Procedures“ beleuchtet fragmentarisch in künstlerisch-forschenden Beiträgen die politischen, ökonomischen und psychologischen Dimensionen unserer gegenwärtigen globalen Krisen. Die Werke der Ausstellung setzen sich mit historisch gewachsenen gesellschaftlichen Machtstrukturen auseinander und zeigen auf, in welchen Situationen und Verhältnissen wir als soziales und privates Subjekt verwundbar sind. Darin liegt auch ein transformatorisches Potential, denn: Schlussendlich schafft sie es, bei den Betrachtenden einen Blickwinkelwechsel zu erzeugen und sanft zur Akzeptanz der eigenen Verletzbarkeit zu bringen. “Protection Procedures” wagt einen zaghaften, aber hoffnungsvollen Blick in eine Zukunft, in der wir kollektive Verantwortung füreinander übernehmen. 

WANN: Die Ausstellung „Protection Procedures“ läuft bis Sonntag, den 18. Dezember. 
WO: Studio Peragine, Versmannstraße 16, 20457 Hamburg.

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