Eine Bühne für die Altenpflege
"Slow Motion" von Lola Arias in der Galerie im Turm

20. Dezember 2021 • Text von

Die argentinische Multimedia-Künstlerin Lola Arias nimmt sich in ihrer Neuproduktion “Slow Motion” einem Thema an, das es mehr denn je ins Blickfeld unserer Aufmerksamkeit zu rücken gilt: der Altenpflege und dem wertvollen Wissen der Pfleger*innen, das in unserer Gesellschaft viel zu oft unbeachtet bleibt. Die Ausstellung in der Galerie im Turm zeigt einen neuen Ausschnitt aus der insgesamt zweijährigen Recherche der Künstlerin und erzählt die Geschichte der Pflegekräfte Judit und Hassan.

Eingang der Galerie im Turm mit Blick auf drei Videoleinwände, darüber steht in roter Neonröhren-Schrift "My Working Will Be The Work", der Titel der Ausstellungsreihe
Ausstellungsansicht “Slow Motion” von Lola Arias, Galerie im Turm, Foto: Eric Tschernow.

Über eine große, weiße Ausstellungswand erstreckt sich die Videoarbeit “Slow Motion”, der man beim Eintreten in die Galerie im Turm unmittelbar gegenübersteht. Ein futuristischer Anleitungsfilm, der Judit Marach und Hassan Abdulamaula bei der Pflegearbeit mit alten Menschen zeigt. Betten werden frisch bezogen, Suppe wird gelöffelt und Dame gespielt – die alltäglichen Routinen zwischen den Pfleger*innen und pflegebedürftigen Menschen werden aus ihrer ursprünglichen Umgebung gerissen und choreografisch in einer leuchtenden, gleichzeitig futuristischen, Ästhetik zum Ausdruck gebracht. Dazu kommentiert eine Stimme aus dem Off die Bewegtbilder mit dem spezifischen Wissen, das aus dem Arbeitsalltag in der Altenpflege und dem Zusammentreffen verschiedener Generationen und Lebensrealitäten entsteht.

Video Still aus dem Film "Slow Motion", zu sehen sind ganz link ein schwarzer Mann in einem weißen Anzug, der nach unten blickt, in der Mitte eine ältere Frau mit weißen Haaren und weißer Kleidung, die in einem Krankenbett sitzt und recht eine junge Frau mit braunen langen Haaren und einen ebenfalls weißen Anzug, ihr Blick ist nach vorne zu den Betrachtenden gerichtet
Lola Arias: Slow Motion, 2021 (video still).

Judit und Hassan sind zwei von den etwa 1,7 Millionen Pflegekräften in Deutschland und den über 600.000, die in der Altenpflege tätig sind. Sie berichten in separaten Videos von ihrem Werdegang und Arbeitsalltag, von persönlichen Erfahrungen und der Vielzahl von Menschen, die sie betreut und in den Tod begleitet haben. Judit versucht, ihren Patient*innen die Scham über das Alt- und hilfebedürftig sein zu nehmen, auch wenn es ihr nicht immer gelingt. Sie hat Menschen kennengelernt, die die Weltkriege überlebt haben, Täter*innen wie Opfer und viele persönliche Geschichten gehört. Die Altenpflegern, die selber Jüdin ist, stand einer Ausschwitzüberlebenden, die im Sterben lag, zur Seite. “Du bist jetzt frei. Geh.”, hat sie ihr zum Abschied gesagt. Hassan ist aus seiner Heimat geflüchtet, sein Asyl-Antrag seit 2017 unbearbeitet. Derzeit macht er eine Ausbildung zum Krankenpfleger. Er berichtet von Rassismus-Erfahrungen in seinem Arbeitsalltag, von Menschen, die aufgrund seiner Hautfarbe nicht von ihm angefasst werden wollten. Sie beide schauen uns in die Augen und erzählen ihre persönlichen Geschichten. Wir hören zu. Und zwischen ihnen steht das “Care Bed” – ein Symbol ihrer Arbeit.

Ausstellungsansicht in der Galerie im Turm, zu sehen sind verschiedene Videoarbeiten und weiße Ausstellungswände, im Vordergrund ist ein Toast auf einem weißen Teller zu sehen, daneben ein Messer und eine Tasse Tee mit Löffel
Ausstellungsansicht “Slow Motion” von Lola Arias, Galerie im Turm, Foto: Eric Tschernow.

Lola Arias setzt sich seit inzwischen mehr als zwei Jahren mit den Themen Pflege und Alter auseinander. Ausgangspunkt ihrer Recherche ist der Science-Fiction-Roman “Tagebuch des Schweinekriegs” von Adolfo Bioy Casares aus dem Jahre 1969, der eine dystopische Gesellschaft beschreibt, in der alte Menschen verfolgt und ermordet werden. Das Theaterstück “Ich bin nicht tot”, das derzeit am Schauspiel Hannover auf der Bühne gezeigt wird, sowie der Kurzfilm “Far Away From Russia” waren die ersten Ergebnisse der Recherche, die die Beziehungen zwischen Pfleger*innen und den pflegebedürftigen Menschen demonstrieren. Die Künstlerin geht in ihren Arbeiten den Fragen nach, inwiefern die Dystopie, die Adolfo Bioy Casares in Worte gefasst hat, bereits zu einer Realität geworden ist und wie viel gegenseitiges Entgegenkommen möglich ist, wenn die gemeinsame Zeit von Jung und Alt durch wirtschaftliche Faktoren bestimmt und begrenzt wird.

Drei Videoleinwände an einer weißen Ausstellungswand, ganz links ein schwarzer Mann mit der Bildunterschrift "No, it was a nice dream", in der Mitte ein Dame-Spielbrett und recht eine ältere Frau mit weißen Haaren und ebenfalls der Bildunterschrift "No, it was a nice dream"
Ausstellungsansicht “Slow Motion” von Lola Arias, Galerie im Turm, Foto: Eric Tschernow.

Jetzt, wo das Klatschen auf den Balkonen für die Pflegekräfte des Landes schon lange verstummt ist und sich an den Arbeitsbedingungen nach wie vor nichts geändert hat, das Pflegepersonal weiterhin überarbeitet und unterbezahlt ist, ist Lola Arias neue Ausstellung ein wichtiges Alarmsignal, eine mahnende Erinnerung, welche Verantwortung wir als Gesellschaft eigentlich für die Menschen tragen, die Pflege benötigen, genauso wie für die, die diese Pflegearbeit täglich leisten. Pflegebedürftigkeit ist ein Prozess, den wir fast alle früher oder später durchlaufen müssen, die Pflegearbeit etwas, auf das wir gesellschaftlich angewiesen sind. Irgendwo zwischen Realität und Fiktion zeigt “Slow Motion” die strukturellen Probleme dieses Systems, gleichzeitig aber auch die berührenden Momente der Fürsorge und Solidarität zwischen jungen und älteren Menschen auf. Das Altsein und Älterwerden ist nichts, das aus dem kollektiven Bewusstsein eliminiert oder ausgeklammert werden sollte, wie es uns der gegenwärtige “Anti-Age-Kapitalismus” in der Werbung oder auf Social Media tagtäglich suggeriert, sondern als das betrachtet werden, das es nun mal ist – ein Teil unseres Lebens, den wir weder verhindern noch unbekümmert zur Seite schieben können.

“Slow Motion” ist der fünfte Teil der Ausstellungsreihe “Working will be the work. On self/care, labour and solidarity” und wurde von Linnéa Meiners und Jorinde Splettstößer kuratiert.

WANN: “Slow Motion” läuft noch bis zum 23. Januar 2022.
WO: Galerie im Turm, Frankfurter Tor 1, 10243 Berlin.

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