Unter Schutzschirmen "Shapes of Shelter" in der Platform
31. Oktober 2022 • Text von Quirin Brunnmeier
“Shelter in place” war zu Beginn der Pandemie die Aufforderung der Behörden in den USA, sich im eigenen zuhause Schutz zu suchen. Doch was bedeutet eigentlich Schutz? Welche Räume können Schutz bieten – und vor was? Tatjana Schaefer und Lisa Stoiber nähern sich in der von ihnen organisierten Ausstellung “Shapes of Shelter” der Vielförmigkeit von Schutz. In der Platform in München sind internationale künstlerische Positionen zu sehen. Im Gespräch erweitern die Kuratorinnen die Idee von Schutzräumen.
gallerytalk.net: Was hat euch an der Idee von Schutzräumen interessiert?
Tatjana Schaefer: Die Thematik der Ausstellung ist organisch im Austausch zwischen uns beiden entstanden. Als wir im Frühling 2020 zum ersten Mal im natürlich privilegierten Home-Office waren, hatten wir Zeit für unsere Recherchen. Wir waren in einem eher reflektivem Modus und wollten gemeinsam eine Ausstellung konzipieren, die sich der Untersuchung von Schutzräumen widmen sollte. Aber nicht nur pandemiebedingte Schutzräume, auch andere, basierend auf historischen, kulturellen und geographischen Kontexten. Ausgehend von einer unmittelbaren Konfrontation mit der Idee von Schutzräumen wollten wir diesem Konzept auf einer höheren Ebene nachgehen, auch mit einem Fokus auf zeitgenössische Positionen aus Ost-Europa.
Wie genau habt ihr das gemacht?
Tatjana Schaefer: In der Ausstellung ist eine Arbeit von Smirna Kulenović aus Bosnien, die sich den Schützengräben von Sarajewo als Narbenstrukturen annähert, die im kollektiven Gedächtnis verblieben sind und einem Heilprozess unterzogen werden. Die Arbeit von Pavlo Grazhdanskij, die eigentlich schon 2018 entstanden ist, hat wiederum eine berührende Aktualität entwickelt. Er zeigt die Untergrundstrukturen der ukrainischen Stadt Charkiw, die aus Tunneln und Bunkern aus der Sowjetzeit bestehen, die für den Fall eines atomaren Kriegs angelegt wurden. Diese Schutzräume schienen für eine jüngere Generation in der Ukraine eigentlich nicht mehr relevant. Jetzt wirken diese Bilder wie fast wie der Blick aus einem anderen Zeitalter.
Euer theoretisches Konzept wurde quasi von der Realität eingeholt. Wie habt ihr darauf reagiert?
Lisa Stoiber: Das allgemeine Gefühl, in unsicheren Zeiten zu leben, war schon ein Ausgangspunkt. Aber die Ausstellung soll nicht nur politisch sein. Wir zeigen zum Beispiel auch textile Objekte der französischen Künstlerin Jenna Kaës, die in einem Karmelitinnen Kloster in Verdun genäht wurden. Das ist eher eine Schutzsuche in der Spiritualität. Was sind die Gründe, sich religiösen Gemeinschaften anzuschließen oder in strenger Klausur in einem Kloster zu leben? Da ist ja auch ein gewisser Schutz vor der Realität.
Für euch ist Schutz also nicht nur körperlich, sondern kann auch immateriell sein?
Lisa Stoiber: Oder mystisch. In der Arbeit des polnischen Künstler*innenduos Øleg&Kaśka liegt ein Fokus auf slawischer Folklore. Wir zeigen zwei malerische Arbeiten, die sich dem Mythos von den schlafenden Rittern in Zakopane nähern. Laut einer Sage schlafen in den Bergen Ritter, die aufwachen, sobald die Bewohner*innen der umliegenden Orte in Gefahr sind.
Tatjana Schaefer: Neben den politischen Aspekten gibt es eben auch diese mystischen Momente, die fast verzaubernd wirken. Insgesamt hat die Ausstellung, was vielleicht paradox klingen mag, eine gewisse transparente Leichtigkeit. Der Gedanke von Schutzräumen als Bunker mit einer abgeschlossenen Architektur wird durch die künstlerischen Arbeiten aufgehoben. Das Schützende ist hier durchaus durchlässig, um auch Platz für Veränderung zu lassen. Der Schutz ist nicht mehr nur örtlich, sondern auch ein dynamischer Transformationsprozess.
Schutz kann also vieles bedeuten, auch auf der individuellen Ebene?
Lisa Stoiber: Genau. Bei der Installation “Open Secrets” von Isabella Fürnkäs geht es auch um die Frage nach dem persönlichen Schutz. Wie viel will man von sich Preis geben? Wie offen geht man zum Beispiel in den sozialen Medien mit Informationen um? Digitale Informationsstrukturen verändern unser Zusammenleben und das Gefühl von privatem, geschütztem Raum und Intimität.
Tatjana Schaefer: Der Titel “Shapes of Shelter” bezieht sich auf die Vielförmigkeit von Schutz. Es geht nicht um architektonische Strukturen von Bunkern, sondern eine Vielfalt unterschiedlicher Schutzformen stehen im Zentrum der Ausstellung. Diesem kollektiven Erlebnis wollten wir uns in einem gemeinsamen Austausch annähern. Wir sind froh, dass wir diese Ausstellung so in der Platform umsetzen konnten, durch die Unterstützung der Baumgart-Stiftung können wir das Projekt nun auch noch medial und in einer Publikation begleiten.
WANN: Die Ausstellung ist noch bis Freitag, den 11. November zu sehen.
WO: PLATFORM, Kistlerhofstraße 70 Haus 60, 3. Stock 81379 München.
Transparenz-Hinweis: Lisa Stoiber war bis Juli 2022 Redakteurin bei gallerytalk.net.