Achtung: Europa! Jonas Höschl im Eigen + ART Lab
18. Februar 2022 • Text von Alexandra Karg
Wo hört kritische Kunst auf und wo fängt politischer Aktivismus an? Und wie kaputt ist eigentlich Europa? Diese Fragen reflektiert Jonas Höschl in einer überzeugenden Einzelausstellung: „TW: Europe“ im Eigen + ART Lab in Berlin.
„Europe is lost“ urteilte 2016 die Rapperin Kate Tempest in ihrem gleichnamigen Song. Europa ist darin Sehnsuchtsort, Hoffnungsträger und persönlicher Traum vieler Menschen, der sich für immer mehr jedoch als echter Alptraum entpuppt. Populismus, Nationalismus, Rassismus, Kapitalismus sei Dank. Und nicht zuletzt auch aufgrund einer europäischen Abschottungspolitik, die viele Geflüchtete das Fürchten lehrt.
„The waterlevel’s rising“, das wusste schon Kate Tempest 2016 und meinte damit keinesfalls nur die Auswirkungen des Klimawandels. Und ja, was soll man sagen, heute steht ein Großteil der Menschen bis zu den Knien tief im Wasser, anderen steht es bis zum Hals. Es sind unschöne Bilder, die dieses Europa in den vergangenen Jahren besonders an seinen Außengrenzen produziert hat, „sensitive content“, den einige Menschen anstößig oder verstörend finden könnten – oder sollten.
Ganz in diesem Sinne spricht Künstler Jonas Höschl mit dem Titel seiner ersten Einzelausstellung eine Trigger-Warnung aus: „TW: Europe“.
Ist diese Trigger-Warnung, die wir auch aus der digitalen Welt als Schwelle zu sensiblen Inhalten kennen, in Form einer Fußmatte zur Ausstellung im Eigen + ART Lab in Berlin einmal überschritten, hallt der Sound Kate Tempests in Jonas Höschls Arbeit „Europe is lost“ (2018) nach. Sowohl in Realität als verzerrte Sound-Snippets als auch im übertragenen Sinne. Doch das Bild von Europa, das Höschl in seinen Arbeiten zeichnet, gleicht nicht ganz dem, das Tempest 2016 besungen hat. Es ist vielschichtiger, ambivalenter, bedeutungsoffener – und es wirft mehr Fragen auf, als es Antworten liefert.
„Europe is lost“ (2018) von Jonas Höschl besteht aus drei Werkteilen und bildet eine zentrale Arbeit in der Ausstellung. Der erste Teil ist eine Schwarzweiß-Fotografie auf einer Stellwand auf Holz und zeigt zwei Personen in einer Nebellandschaft. Das Ziel ihres Weges hält der Nebelschleier im Ungewissen. Dem Bild ist der zweite Werkteil, eine Video- und Soundarbeit, auf der Rückwand eingeschrieben, die diesen ersten, romantischen Eindruck bricht. Es sind Aufnahmen von europäischen Außengrenzen, vom Versuch Geflüchteter, diese zu überwinden, von ihrem Kampf mit Sicherheitskräften. Komplementiert wird das Werk drittens von Porträts von Menschen, die Jonas Höschl in europäischen Geflüchteten-Camps kennenlernte. Höschl, Meisterschüler in der Klasse Olaf Nicolai an der Akademie der Bildenden Künste in München, hat sie als Holzschnitte realisiert, ganz im Stil von Fahndungsplakaten der Polizei, darunter der Schriftzug „Europe ist lost“.
Gekonnt metaphorisch zeichnet der Künstler mit dieser Arbeit in drei Teilen den Weg von Asylsuchenden nach, die mit ihrer Flucht häufig eine Reise ins Ungewisse antreten. Ihr Weg endet nicht selten mit ihrer Brandmarkung als Verbrecher im System. Der Blick in die teils ernsten, teils lachenden Gesichter auf den Holzschnitten von „Europe is lost“ (2018) produziert gleichzeitig die offene Frage, wer eigentlich die Schuld trägt an der Misere des verlorenen Europa.
Bedeutungsoffen geht Jonas Höschl auch in seiner künstlerischen Selbstreflexion vor. Die Frage, wo kritische Kunst anfängt und politischer Aktivismus aufhört, zieht sich durch die Ausstellung im Eigen + ART Lab. Höschl stellt sie in Form der großflächig angelegten Installation „09. September 2015, Röszke“ (2021) mit zehn schwarz lackierten Stahlaufstellern. Sie sind über den Ausstellungsraum verteilt und enthalten jeweils eine Fotografie, die als Siebdruck in eine Glasplatte eingebrannt wurde. Zehnmal das gleiche Motiv aus leicht unterschiedlicher Perspektive, in dem auch Jonas Höschl persönlich eine zentrale Rolle spielt.
Zu sehen ist auf den medialen Bildern und Screenshots von digitalen Videos, wie im Herbst 2015 eine ungarische Kamerafrau Geflüchteten an der ungarischen Grenze ein Bein stellte. Als Augenzeuge, politischer Aktivist und Fotograf war auch Jonas Höschl Teil dieser Situation. Als direkter Nebenmann blickte er auf das Handeln der ungarischen Journalistin wie die Betrachter:innen heute in der Ausstellung auf die Fotos davon. Die Bilder gingen damals um die Welt, machten die Betrachter:innen im Internet zu digitalen Augenzeug:innen.
Die Autorin Kerstin Schankweiler beschreibt in ihrem Aufsatz „Bildproteste“ (2019) die Bedeutung von Bildern für politische Proteste im digitalen Zeitalter und erklärt, wie die Vernetzung über die sozialen Medien Ereignisse, Zeug:innen dieser Vorfälle und Bilder zu einer Affektgemeinschaft macht, wie diese Bilder reale Zeug:innen des Geschehens und Betrachter:innen miteinander verbinden.
Indem Jonas Höschl die Szene im Kontext der Ausstellung noch einmal wie unter dem Brennglas zeigt, werden auch die Betrachter:innen der Ausstellung Teil dieser Affektgemeinschaft. Als Akteur im Bild stellt er über die künstlerische Praxis so auch eine Verbindung zu sich selbst als Person und Aktivist her. Die Arbeit „09. September 2015, Röszke“ (2021) wirft nicht nur Fragen nach der Rolle des Künstlers auf, sondern lädt die Betrachter:innen auch ein, die eigene Position und ihre das persönliche Handeln in einem europäischen Konflikt zu reflektieren, in dem die Ohnmacht des Einzelnen neben der Macht der Vielen besteht.
Die selbstreflexive und mediale Offenheit in Jonas Höschls spiegelt sich auch im Rest der Ausstellung „TW: Europe“ wider und wird durch ein begleitendes Filmprogramm noch erweitert. Neun unterschiedliche Positionen aus dem Umfeld des Künstlers mit Videos von Dominik Bais, Anna Baranowski, Cana Bilir-Meier, Cihan Cakmak, Tim Erdmann und Christina Grotz, der Künstler:innengruppe Frankfurter Hauptschule, Laura Leppert, Kalas Liebfried und belit sağ schließen an die von Höschl gesetzten Themen an und erweitern diese gekonnt um die Repräsentation künstlerisch-kollektiver Praxis, deren Grenzen im besten Fall nie bei der eigenen Position gesetzt sind.
Dafür steht auch „Stella“ (2021), ein Magazin, ein gemeinschaftlich entstandenes Produkt aus dem Workshop „Defence. What do you do with your anger?“ der Künstlerin Simona Andrioletti, mit Beiträgen von Jonas Höschl, Felix Neumann und Riccardo Rudi, das während der ArtVerona 2021 entstanden ist und nun im Eigen Art LAB kostenlos erhältlich ist.
Insgesamt, das wird sowohl an Höschls Arbeiten als auch am zusätzlichen Programm von “TW: Europe” deutlich, ist die erste Einzelausstellung von Künstler Jonas Höschl das Produkt einer künstlerischen Praxis, das viele Rollen, Perspektiven und Deutungen offen repräsentiert und dennoch Haltung nicht vermissen lässt. Dahinter steckt keine Unentschlossenheit. Stattdessen offenbaren Höschls Arbeiten die Entschiedenheit, Fragen eher zu produzieren als Antworten zu geben und diese eher im Kollektiv zu finden als in der Überhöhung des persönlichen, künstlerischen Subjekts. Und genau darin liegt auch ihre entschiedene Stärke.
WANN: Die Ausstellung „TW: Europe“ läuft noch bis Samstag, den 5. März.
WO: Eigen + ART Lab, Torstraße 220, 10115 Berlin.