Irritierende Inszenierungen
"Anti-Fashion" von Cindy Sherman in der Sammlung Falckenberg

25. Oktober 2023 • Text von

Seit den frühen 1980er Jahren beschäftigt sich die Fotografin Cindy Sherman mit Mode als Form der Verkleidung und setzt sie gezielt als Instrument der Kritik ein. Ihre Arbeiten leben von der präzisen Beobachtung des Menschen und einer spielerischen Selbstinszenierung. In der Sammlung Falckenberg in Hamburg wird mit “Anti-Fashion” nun erstmals der modische Aspekt im Werk von Cindy Sherman in den Mittelpunkt gerückt.

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Ausstellungsansicht Cindy Sherman – Anti-Fashion der Sammlung Falckenberg © Deichtorhallen Hamburg 2023, Foto: Henning Rogge.

Mit rund 50 Arbeiten aus den letzten 50 Jahren zeigt die Ausstellung “Anti-Fashion” die US-amerikanische Fotografin Cindy Sherman, die mit ihren Werken zu den einflussreichsten und bekanntesten künstlerischen Positionen der Fotografie zählt und keiner Vorstellung mehr bedarf. Die Ausstellung wurde von Dr. Alessandra Nappo der Staatsgalerie Stuttgart kuratiert und dort in diesem Jahr erstmalig einer breiten Öffentlichkeit präsentiert. Nun zeigt die Sammlung Falckenberg in Hamburg-Harburg als Teil der Deichtorhallen Hamburg die große Werkschau, die erstmals die Auseinandersetzung mit der Mode in den Mittelpunkt stellt. In den beiden Obergeschossen wird die Ausstellung durch überwiegend fotografische Werke aus der Sammlung Falckenberg ergänzt.

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Cindy Sherman, Untitled #462, 2007/2008, Privatsammlung, Europa © Cindy Sherman.

Seit Anbeginn ihrer Karriere beschäftigt sich Cindy Sherman mit Performances – weniger im Sinne der Performance als künstlerisches Medium, sondern vielmehr mit der Tatsache, dass Menschen sich selbst inszenieren, sich selbst eine Bühne geben, ihre Körper mal mehr mal weniger bewusst performativ einsetzen und damit Botschaften nach außen senden. Sie studiert die Kleidung der Menschen, aber auch ihre Mimik und Gestik haarscharf und überträgt ihre Erkenntnisse in ihre künstlerische Arbeit, in der sie sich selbst inszeniert, in verschiedene Rollen schlüpft und stets die gesellschaftlichen Stereotype und Schönheitsideale hinterfragt.

In ihrer frühen Arbeit “Cover Girls”, mit der die Ausstellung eröffnet wird, schminkt sie sich selbst so präzise in bekannte Modecover hinein, dass diese täuschend echt wirken und eine Illusion erzeugen, die mit dem jeweils dritten Bild der Serie jedoch unmittelbar wieder zerstört wird. Technisch perfekt umgesetzt, treibt die Künstlerin das Cover von seiner makellosen Erscheinung bis hin zu einer völligen Entgleisung.

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Ausstellungsansicht Cindy Sherman – Anti-Fashion der Sammlung Falckenberg © Deichtorhallen Hamburg 2023, Foto: Henning Rogge.

Cindy Sherman arbeitet mit zahlreichen Requisiten – Masken, Attrappen, Prothesen, Puppen und schlecht ausgeleuchteten Hintergründen, vor denen sie sich selbst inszeniert und mit dem Selbstauslöser fotografiert. Ihre Fotografien spielen häufig mit einer Armutsästhetik, die in direktem Kontrast zur High-End-Mode steht, in die sie schlüpft und die ihr von großen Modehäusern wie Chanel oder Stella McCartney zur Verfügung gestellt wird. Seit den 1980er Jahren reagiert Cindy Sherman nicht nur auf die Modeindustrie, sondern ist Teil von ihr und erhält zunehmend Aufträge von Modehäusern und Zeitschriften wie Chanel, Comme des Garçons, Louis Vuitton bis hin zu Vogue und Harper’s Bazaar.

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Cindy Sherman, Untitled #133, 1984, Staatsgalerie Stuttgart, Stuttgart © Cindy Sherman. // Cindy Sherman, Untitled #410, 2003, Privatbesitz © Cindy Sherman.

Während einige ihrer Fotos auf der einen Seite noch einen Funken Glamour und den Charakter eines Hochglanzmagazins in sich tragen, stehen die Besucher*innen auf der anderen Seite Motiven gegenüber, die eine verrückte Horrorfilm-Ästhetik transportieren. Cindy Sherman schlüpft beispielsweise in Clowns-Gestalten, die dem Wahnsinn nah zu sein scheinen, mal ungesund, mal ekelerregend daherkommen und einen in ihrer Farbintensität nahezu anspringen. Sie bricht mit den vorherrschenden Modekonventionen und gesellschaftlichen Tabus, in dem sie Piercings und Tattoos zeigt, noch lange bevor sie salonfähig wurden, zeigt sich selbst in unvorteilhaften Posen mit gespreizten Beinen und gibt den Blick frei auf die Damenbinde im Schritt.

Die Fotos von Cindy Sherman sind vielschichtig – die Künstlerin vermischt zahlreiche Kleidungsstücke in einem Bild miteinander, die unterschiedliche Codes nach außen tragen. Sowohl inhaltlich als auch visuell bedient sie sich dem Effekt der Überlagerung. Sie arbeitet gezielt mit gesellschaftlichen Klischees und Vorurteilen, hinterfragt binäre Geschlechterrollen und gibt wichtige Impulse für Genderfluidität. Dabei benutzt sie sich immer wieder selbst als Projektionsfläche, wird gewissermaßen selbst zur Inszenierung der Inszenierung.

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Cindy Sherman, Untitled #602, 2019, Sammlung Gilles Renaud © Cindy Sherman.

Die Ausstellung zeigt, dass es Cindy Sherman in all den 50 Jahren ihres künstlerischen Schaffens und bis heute immer wieder gelingt, ihre scharfsinnige Beobachtungsgabe in ausdrucksstarke, humorvolle und irritierende Selbstinszenierungen zu übersetzen, die einen hohen Wiedererkennungswert haben und in einer stetigen Kohärenz stehen: Einerseits ist die Modeindustrie ein wichtiger Auftraggeber für Cindy Sherman, andererseits nimmt sie in ihren Arbeiten immer wieder eine Anti-Haltung ein, mit der sie die Werte der Modewelt hinterfragt. Sie arbeitet ausschließlich mit sich selbst und ihrem eigenen Körper – ihre Fotos sind daher frei von Schikanierung, sie zeigen nicht mit dem Finger auf andere. Es geht nicht darum, sich über andere lustig zu machen oder sie in ihrem Sein zu kritisieren.

Im Mittelpunkt stehen Werte, gesellschaftliche Normen und Schönheitsideale, die maßgeblich von den internationalen Modehäusern geprägt werden und großen Einfluss haben auf die Gesellschaft. Die Ausstellung “Anti-Fashion” wirft in Zeiten von technischen Innovationen, sozialen Netzwerken und dem wachsenden Einfluss künstlicher Intelligenz wichtige Fragen auf: Wie gehen wir mit Bildern um? Wie betrachten wir Bilder? Was vermitteln sie und was machen sie mit uns als Gesellschaft? Cindy Sherman schafft bewusst Momente der Irritation und Übertreibung, die uns als Betrachter*innen auffordern und herausfordern, die Bilder genau zu betrachten, zu untersuchen und zu hinterfragen. Über fünf Jahrzehnte hinweg verliert die Künstlerin nichts von ihrer Präzision und Aktualität – sie bleibt ganz nah am Puls der Zeit und nimmt innerhalb dieses Diskurses eine wichtige Position ein.

WANN: “Anti-Fashion” läuft bis zum 28. Januar 2024. Jeden Samstag und Sonntag von 12 – 17 Uhr ist der Eintritt in die Ausstellung frei.
WO:
Sammlung Falckenberg, Wilstorfer Straße 71, 21073 Hamburg-Harburg.

Vielen Dank für die Presse-Einladung nach Hamburg und die Übernahme der Reisekosten.

Eine weitere Ausstellung einer ebenso bedeutenden Fotografin und Filmemacherin befindet sich derzeit ebenfalls auf großer Europa-Tour: “This Will Not End Well” von Nan Goldin.

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