Knutschen, würgen und Zähne zeigen
"In aller Munde" im Kunstmuseum Wolfsburg

21. April 2021 • Text von

Das Kunstmuseum Wolfsburg zeigt in einer großen Ausstellung derzeit alles, was den Mund zum Thema hat. In einem historischen Abriss von Pieter Brueghel bis Cindy Sherman wird in verschiedensten Medien der Kunst gelacht, geknutscht, gewürgt und die Zunge herausgestreckt.

Ausstellungsansicht "In aller Munde" im Kunstmuseum Wolfsburg, links im Vordergrund sind große Zähne zu sehen und im Hintergrund eine große Mundhöhle vor der ein sich umarmendes Paar steht
Blick in die Ausstellung In aller Munde. Von Pieter Bruegel bis Cindy Sherman, Foto: Marek Kruszewski.

Er ist in täglichem und quasi permanentem Einsatz: unser Mund. Atmen, gähnen, kauen, lachen oder schlürfen – nur einige seiner Tätigkeiten, die jeden Tag ganz selbstverständlich und wie von selbst ablaufen. Der Mund ist ein Werkzeug mit dem wir uns artikulieren, unsere Emotionen zum Ausdruck bringen und Lebensnotwendiges wie Sauerstoff und Nahrung in uns aufnehmen können. Genügend Gründe also, um ihm eine große Präsentationsfläche zur Verfügung zu stellen, wo er alleine die Hauptrolle spielen darf.

Ein Bild mit der Wort ORAL in roten Großbuchstaben auf hellblauem Grund
Franz Erhard Walther, ORAL, 1958, Bleistift und Tempera auf Papier, 40,5 x 86 cm, Courtesy der Künstler © VG Bild¬Kunst, Bonn, 2020, Foto: Archiv Franz Erhard Walther, FEW Foundation.

Das Kunstmuseum Wolfsburg hat sich dieser Aufgabe gestellt und in verschiedenen Themenbereichen Werke und Objekte zusammengebracht, die sich mit dem Mund beschäftigen. Zähne zeigen, Lecken und Schmecken, Schlund und Schlingen und der Kuss sind nur einige der Themenbereiche. Entstanden ist ein großes Sammelsurium mit über 250 Exponaten aus aller Welt: Fotografien, Videoarbeiten, Installationen, Gemälde oder Drucke, aber auch Artefakte, wie Werkzeuge aus der Zahnmedizin oder glänzend polierte “Grills”, werden ausgestellt. Schauen wir uns einige der künstlerischen Positionen doch einmal genauer an.

Fotolithografie von Man Ray, ein knallroter Mund nimmt fast den gesamten Bildraum ein und schwebt im Himmel
Man Ray, A l’heure de l’observatoire – Les amoureux, 1970, Fotolithografie in Farbe auf Velinpapier, 35,2 x 89,5 cm (Bild), 60,3 x 103,7 cm (Blatt), Ed. 124 / 150, Bernd Dörken, Berlin © VG Bild-Kunst, Bonn, 2020, Foto: Christie‘s Images, London.

Betrachtet man den Mund von seiner rein anatomischen Seite, so fallen vor allem die Lippen direkt in den Blick. Sie definieren die genaue Formgebung, sind sensorisch und werden häufig als sinnlich wahrgenommen. In diesen Kontext passen vorwiegend rote Lippen, die als verführerisch und auffallend gelten. Bei Man Rays “A l‘heure de l’observatoire – Les amoureux” spielen diese eine besondere Rolle und nehmen fast den gesamten Bildraum ein. Die Fotolithografie ist eine Hommage und gleichzeitig der Abschied des Künstlers von seiner Partnerin Lee Miller im Jahre 1970.

Zwei gerahmte Fotografien mit einer braunhaarigen, nackten Frau, die ihr Gesicht gegen eine Glasscheibe drückt
Ana Mendieta, Untitled (Glass on Body Imprints – Face), 1972, 6 Farbfotografien, je 49 x 32,5 cm Ed. 7 / 10, The Roux Collection, Panama © VG Bild-Kunst, Bonn, 2020, Courtesy GNYP Gallery, Foto: Ludger Paffrath.

In der Serie “Untitled (Glass on Body Imprints – Face)” von Ana Mendieta aus dem Jahre 1972 wie auch gleichermaßen in der Videoarbeit von Pippilotti Rist “Open My Glade (Flatten)” von 2000 stehen die Lippen als Lustobjekt im Fokus und werden als solches dekonstruiert. Bei Mandieta verwandeln sich Mund und Glas zu einer organischen Masse mit dem Ziel, Selbstbestimmung über ihren Körper und ihr Leben zu erlangen, abseits von (Schönheits-)Normen und binären Geschlechtervorstellungen. Bei Rist wird die Auflösung des rein Weiblichen vor allem durch das Verschmieren des Lippenstifts an die Betrachter*innen vermittelt. Die Videoarbeit wurde 2017 auf 60 Screens auf dem Times Square in New York übertragen und damit auch in den öffentlichen Raum gebracht.
Mehr über das Werk von Ana Mendieta könnt ihr hier in einem Beitrag von 2018 erfahren.

Ausstellungsansicht "In aller Munde" im Kunstmuseum Wolfsurg, zwei Besucher:innen stehen vor zwei Bildern von Andy Warhol, die Bilder hängen an einer rosafarbenen Wand
Andy Warhol, Saint Apollonia, 1984, Farbserigrafie auf Karton, Ed. 210/250, Collection of Mark Ginsburg, © Artist Rights Society (ARS), Foto: Marek Kruszewski.

Blicken wir weit in die Vergangenheit: Die Geschichte der Heiligen Apollonia besagt, dass ihr 249 n. Chr. während der Christenverfolgung in Alexandria durch Schläge auf den Kiefer die Zähne herausgebrochen wurden. Eine Gewalttat, die sie jedoch nicht von ihrem Glauben abbringen konnte und letztlich für sie auf dem Scheiterhaufen endete. Sie wird 1634 heiliggesprochen und zur Schutzheiligen der Zahnmedizin ernannt. Dem Bildmotiv der Heiligen Apollonia, das auf eine Darstellung von Piero della Francesca zurückgeht, nahm sich Pop Art-Künstler Andy Warhol 1984 an und entwickelte in Anlehnung daran eine druckgrafische Serie.

Zwei Fotografien: links eine Schwarz-Weiß-Fotografie von Araki mit einer Frau, die eine Klammer an der Zunge hat und links ein Foto von Wolfgang Tillmans, wo sich zwei Männer küssen
Nobuyoshi Araki, Ohne Titel, aus der Serie Tokyo Novelle, 1995, Schwarz-Weiß-Fotografie, Kunstmuseum Wolfsburg © Nobuyoshi Araki, Foto: Kunstmuseum Wolfsburg // Wolfgang Tillmans, The Cock (Kiss), 2002, Courtesy Galerie Buchholz, Berlin / Köln, Maureen Paley, London, und David Zwirner, New York.

Das Foto “The Cock (Kiss)” zeigt einen Kuss zwischen zwei jungen Männern, den Wolfgang Tillmans im Londoner Club “Ghetto” während einer Gay Club Night mit dem Titel “The Cock” 2002 eingefangen hat. Das Bild ist über die Jahre zu einem wichtigen Symbolbild im Kampf gegen Homophobie geworden. In seinen Momentaufnahmen innerhalb der internationalen Clubkultur, die derzeit zum Stillstand gekommen ist, gelingt es ihm, intime Augenblicke im öffentlichen Raum festzuhalten.

Fotografie von der Tante von Ane Tonga, die goldenen Zahnschmuck auf ihrer oberen Zahnleiste hat, zu sehen ist in Gold das Wort "LOVE"
Ane Tonga, Ofa, 2013, Fotografie, Metalldruck auf Aludibond, 84,1 x 118,9 cm, Courtesy die Künstlerin © Ane Tonga.

Zahnveredelungen sind keine neuzeitige Erfindung, Goldzähne oder sogenannte “Grills” schon eher. Bei “Grills” handelt es sich um einen spangenartigen Zahnschmuck aus Gold, Silber oder Platin, der vor allem im Hip Hop als Statussymbol eingesetzt wird. Die Künstlerin Ane Tonga beschäftigt sich in ihrer Serie “Grills” (2012-2014) innerhalb ihrer Familie mit einer ähnlichen Tradition – dem “nifo koula”. Dabei handelt es sich um eine Verzierung der Zähne, die auf den Außenseiten aufgetragen wird. Das dafür verwendete Gold wird meist mütterlicherseits vererbt. Die Tante der Künstlerin, die hier im Foto zu sehen ist, setzt “nifo koula” mit der Bedeutung von “ofa” (Liebe) gleich, weshalb es der Begriff “Love” als Schmuck letztlich auf ihre Zähne geschafft hat.

Ein Schwarz-Weiß-Bild auf dem ein speiender Mann zu sehen ist, der Wasser in eine Schüssel spuckt
Franz Erhard Walther, FEW ein Gemisch aus Wasser, Milch und Backpulver in eine Blechschussel speiend, 1958, aus der Serie Versuch, eine Skulptur zu sein, 1958, C-Print, 18 x 24 cm Courtesy der Künstler © VG Bild-Kunst, Bonn, 2020, Courtesy Archiv Franz Erhard Walther, FEW Foundation, Foto: Egon Halbleib.

Dr. Andreas Beitin, Direktor des Kunstmuseums, bezeichnet die Schau in einem Video als die “Ausstellung zur Pandemie, denn der Mundraum ist ja quasi die Brutstätte des Virus”. Schade nur, dass sie die meiste Zeit für Besucher*innen wegen eben diesem geschlossen blieb. Kuratiert wurde “In aller Munde” von Dr. Uta Ruhkamp, die den Ausstellungsrundgang wie eine “orale Selbsterkundungstour” versteht.

Ist diese Selbsterkundung an manchen Stellen eklig und äußerst skurril? Ja, definitiv. Aber auch gleichermaßen humorvoll und interessant. Das Museum vereint in seinen Räumlichkeiten eine bemerkenswerte Auswahl an Kunstwerken und großen Namen, die die Vielseitigkeit der Kontexte und Darstellungsmöglichkeiten unseres Mundes offenlegen. Von einer riesigen Mundhöhle, die über einem ragt, winzig kleinen Zähnchen, spuckenden Mündern bis hin zu einer Zunge, die plötzlich und ohne Vorwarnung aus der Wand ploppt, wird im Kunstmuseum Wolfsburg wirklich jedes mögliche Thema, das den Mund betrifft, visuell abgedeckt.

Auf seiner Website hat das Museum ein Curatorial zusammengestellt, das einen immerhin kleinen Einblick in die Ausstellung und Themenschwerpunkte gewährt. Wer noch mehr über das Kunstgeschehen in Wolfsburg erfahren mag, kann hier das Interview mit dem Leiter des Kunstverein Wolfsburgs nachlesen.

WANN: Die Ausstellung wurde bis Sonntag, 6. Juni 2021, verlängert, ist aber derzeit geschlossen. Wann das Museum wieder öffnet, ist zum jetzigen Zeitpunkt unklar.
WO: Kunstmuseum Wolfsburg, Hollerplatz 1, 38440 Wolfsburg.