Binäres System? Nein, danke!
"Queerness in Photography" im C/O Berlin

29. September 2022 • Text von

Das C/O Berlin zeigt mit “Queerness in Photography” gleich drei zusammenhängende Ausstellungen, die sich vielschichtig mit queeren Lebensrealitäten, Fragen nach Geschlecht, Identität und Sexualität auseinandersetzen. Anhand historischer Bilder anonymer Personen, Filmen und zeitgenössischen Positionen wird der Kampf gegen konstruierte Geschlechterrollen sichtbar gemacht und gleichzeitig die Selbstermächtigung und der Zusammenhalt innerhalb der queeren Community mithilfe des Mediums der Fotografie visualisiert.

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Anonymous, Bambi and the Cross-Dresser’s Band of The Carrousel of Paris, 1958. Sébastien Lifshitz Collection.

Der französische Regisseur und Drehbuchautor Sébastien Lifshitz zeigt in der ersten Ausstellung “Under Cover. A Secret History of Cross-Dressers” im C/O Berlin über hunderte kleinformatige historische Fotografien seiner privaten Sammlung aus den 1860ern bis heute, die er auf Flohmärkten erstanden hat und lange Zeit im Verborgenen geblieben sind. Die Fotos zeigen uns überwiegend unbekannte Menschen, die alle Kleidung tragen, die dem konstruierten Bild der Geschlechterrollen widerspricht – sie sind Cross-Dresser*innen. Körper und ihre äußere Erscheinung werden bis heute wie kulturelle Objekte gelesen. Die Werte und Normen einer Gesellschaft, Rollenbilder, mit denen wir aufwachsen, spielen bei der Einordnung eine zentrale Rolle. Beim Cross-Dressing werden heteronormative Konventionen gebrochen und in privaten und sicheren Räumen bildlich festgehalten. Männlich gelesene Personen tragen Kleider, High Heels und Make-up während weiblich gelesene wenig figurbetonte Jacketts und Anzüge bei hochgesteckten Haaren mit Hüten tragen.

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Image from Casa Susanna. Courtesy Cindy Sherman Collection.

Die Ausstellung erzählt aber auch die persönliche Geschichte von der französischen Revue-Künstlerin Bambi, Marie-Pierre Pruvot, die als Junge in Algerien aufgewachsen ist und sich 1960 einer Geschlechtsangleichung unterzog nachdem sie bereits viele Jahre offen als Frau in Paris gelebt hat. In der angrenzenden Ausstellung “Casa Susanna”, die exklusive Einblicke in einen Treffpunkt und Safe Space der 1950er und -60er-Jahre in Hunter, New York, sowie in die private Sammlung der Fotografin Cindy Sherman gewährt, wird der Lebensweg in dem Film “Bambi. A French Woman” von Sébastien Lifshitz detailliert nachgezeichnet. Marie-Pierre Pruvot ist auch heutzutage eine wichtige Repräsentantin und Pionierin der Transgender-Community. Zu den ersten namentlich bekannten Personen, die sich zu Beginn der 1930er-Jahre einer vollständigen Geschlechtsangleichung unterzogen haben, gehören beispielsweise Dora “Dorchen” Richter und die Malerin Lili Elbe.

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Walter Pfeiffer, Untitled, 1974–2019 © Walter Pfeiffer . Courtesy the artist and Art + Commerce.

Die dritte und zeitgenössische Ausstellung im Obergeschoss trägt den Titel “Orlando” und wurde von der weltbekannten Schauspielerin Tilda Swinton kuratiert. “Orlando” ist sowohl ein 1928 von Virginia Woolf veröffentlichter Roman als auch ein 1992 von Sally Potter produzierter Film, in dem Swinton die Hauptrolle spielt. Beide Werke erzählen die Geschichte von einem jungen adligen Menschen, der nicht altert und auf wundersame Weise zwischen verschiedenen Geschlechtern immer wieder hin und her wechselt. Szenenfotos mit Tilda Swinton aus dem Film von Sally Potter sind Teil der Ausstellung. Genderfluidität und Transformation ziehen einen thematischen roten Faden durch die Ausstellungsräume und den weiteren zeitgenössischen Positionen von unter anderem Walter Pfeiffer, Jamal Nxedlana, Mickalene Thomas, Viviane Sassen und Zackary Drucker, die die Transfrau Rosalyne Blumenstein in New York fotografisch in Szene gesetzt hat. Knapp 60 weitere Fotografien hat Swinton für “Orlando” ausgewählt. Begleitet wird die Ausstellung außerdem durch ein umfangreiches Glossar, das alle Begriffe, die kulturgeschichtlich mit den Ausstellungsinhalten zusammenhängen, enthält und erklärt. Begrifflichkeiten wie “Binarität”, “Heteronormativität”, “genderfluid” oder “Intersektionalität” können beim Museumsbesuch direkt mitgedacht und bitte ab sofort in den eigenen Sprachgebrauch aufgenommen werden.

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Sally Potter, from Orlando Photo Album, Spring 1988 © Sally Potter.

Die Ausstellungen zu “Queerness in Photography” zeigen auf, dass Lebensrealitäten außerhalb des binären Geschlechtersystems existieren – und das nicht erst seit gestern. Seit den 1860er-Jahren gibt es visuelle Zeugnisse, die nach langer Zeit im Verborgenen hier endlich einer breiten Öffentlichkeit präsentiert werden. Sie erzählen die persönlichen Geschichten ausgewählter Protagonistin*innen und Pionier*innen ihrer Zeit, die sich nicht in das gesellschaftlich konstruierte System von “Frau” und “Mann” pressen lassen und versucht haben, ihren Platz irgendwo in privaten Räumen und Safe Spaces zu finden. Hier werden Modefragen aufgeworfen, die eben nicht nur für unsere heutige Gesellschaft von Relevanz sind. Die Ausstellungen werfen gleichzeitig aber auch Fragen auf, wie durch die Kraft der Fotografie bestimmte Sehgewohnheiten und Stereotype über Jahrzehnte weitergetragen und reproduziert werden können. Sie zeigen, wie wichtig Fotos für die Entwicklung der eigenen Identität sind.

Schon jetzt ist “Queerness in Photography” in Berlin ein Publikumsmagnet. Die Eröffnung im Rahmen der Berlin Art Week verwandelte das Museum kurzerhand in einen der gefragtesten Clubs der Stadt mit einer vergleichbaren Warteschlange wie beim Berghain. Dass das Museum diesem Thema eine so große Präsentationsfläche bietet, zieht zurecht die Aufmerksamkeit der Besucher*innen auf sich und setzt ein wichtiges Statement hin zu einer notwendigen Erweiterung des Genderbegriffs, mehr Sichtbarkeit für queere Lebensrealitäten, die schon immer da waren und zelebrieren das Recht auf Freiheit, so zu sein, wie auch immer man sein möchte. Und dabei ist Kleidung nicht an ein bestimmtes Geschlecht geknüpft. Wir brauchen kein binäres Geschlechtersystem und keine Schubladen mehr. Was wir dringend brauchen sind Akzeptanz, Toleranz und Sichtbarkeit für all die Facetten, die das individuelle menschliche Sein und die Entwicklung der eigenen Identität mit sich bringen. Verabschieden wir uns doch endlich vom binären System.

Zu den regulären Ausstellungen gibt es ein umfangreiches Begleitprogramm mit Führungen, Panels, Performances und der Filmreihe “Sincerely Queer.” von Sébastien Lifshitz.

WANN: Die Ausstellungen zu “Queerness in Photography” laufen bis zum 18. Januar 2023.
WO: C/O Berlin, Amerika-Haus, Hardenbergstraße 22-24, 10623 Berlin.

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