Analoge Avatare
Sammlung Goetz im Puppentheater

28. April 2023 • Text von

Diese Puppen sind ganz sicher kein Spielzeug. Die interdisziplinäre Ausstellung “(K)ein Puppenheim. Alte Rollenspiele und neue Menschenbilder” ist eine Zusammenarbeit der Sammlung Goetz und der Sammlungen Fotografie und Puppentheater des Münchner Stadtmuseums. Sie verbindet groteske Artefakte mit Kunst. Eine außergewöhnliche Ausstellung mit überraschenden Verquickungen.

Laurie Simmons: The Music of Regret (Film Still), 2005/2006, © the artist, Courtesy Sammlung Goetz, München.

Die Räumlichkeiten der Sammlung Puppentheater / Schaustellerei im Münchner Stadtmuseum versetzen die Besucher*innen direkt in ein anderes Jahrtausend. Die puppenhistorische Dauerausstellung im dritten Stock versprüht den muffigen Charme der 1980er-Jahre: Verglaste Ausstellungsvitrinen dominieren die Räumlichkeiten, wie in einem Labyrinth schlängeln sich die Gänge, in schummriges Licht getaucht. Puppengesichter starren die Besucher*innen an, auf kleinen Bühnen stehen Soldatenfiguren und im Panoptikum liegt ein lasziver nackter Frauenkörper, zwar aus Wachs aber ohne Bauchdecke. Doch neben unzähligen Puppenköpfen, fragilen Figuren und anderen Artefakten findet man in den Vitrinen und an den Wänden im Moment auch: Fotos von Cindy Sherman, Nan Goldin oder Thomas Ruff, Videos, Skulpturen und andere künstlerische Interventionen.

Nathalie Djurberg: Puppets from Hungry Hungry Hippoes, 2007, © the artist/VG BILD-KUNST, Bonn 2023, Courtesy Sammlung Goetz, München, Foto: Thomas Dashuber.

Unter dem Titel “(K)ein Puppenheim. Alte Rollenspiele und neue Menschenbilder” wurde die Dauerausstellung Puppentheater / Schaustellerei des Münchner Stadtmuseums, die von 1984 bis 2022 zu sehen war, dekonstruiert, neu geordnet und um zeitgenössische Positionen erweitert. Die vorhandene Raumgestaltung wurde dafür hinterfragt und geöffnet, Teilflächen neue bespielt und neue Kontexte geschaffen. So hängt eine großformatige Fotografie aus der „Clowns“-Serie von Cindy Sherman direkt neben historischen Clown-Plakaten und Figuren. In einem anderen Raum werden klassische Motive und Figuren aus dem Kontext des Varietés unter dem Überbegriff „Moulin Rouge“ mit Bildern von Nan Goldin oder André Gelpke vermengt. Sexuelle Identität, Erotik und Sex-Work werden hier aus unterschiedlichsten Blickwinkeln betrachtet.

Herbert List: Die “Unbekannte der Donau”, 1944/46, © Herbert List Nachlass, Hamburg.

Puppen fungieren immer auch als Platzhalter und Stellvertreter für menschliche Eigenschaften, Sehnsüchte oder Ängste. Als analoge Avatare haben sie eine gesellschaftliche Funktion, indem sie Emotionen erzeugen, binden und kanalisieren. Oft funktioniert dies durch Überspitzung und Überzeichnung. Einzelne menschliche Eigenschaften werden ins Groteske verstärkt oder wirken über ein Gefühl der Unheimlichkeit. Die Ausstellung “(K)ein Puppenheim. Alte Rollenspiele und neue Menschenbilder” schafft es, die im Stadtmuseum ausgestellten Exponate mit Bildern, Videos und Objekten aus dem Kontext der zeitgenössischen Kunst in einen echten Dialog zu setzten.

Die Kurator*innen konnten dabei auf die offensichtlich breiten und tiefen Bestände der Sammlung Goetz und der Sammlung Fotografie des Stadtmuseums zugreifen. Das Produkt dieser Vermengung scheinbar inkompatibler Artefakte ist eine außergewöhnliche Ausstellung, die durch unkonventionelle Vernetzungen neue und ungewohnte Bezüge schafft.

Cindy Sherman: Untitled #417, 2004, © the artist, Courtesy Hauser & Wirth und Sammlung Goetz, München.

In einem thematisch gegliederten Parcours sind rund 500 Werke von mehr als 50 Künstler*innen zu sehen. Im Zentrum stehen historische und aktuelle Rollenzuschreibungen, Fragen der Identität und des Geschlechts. Dass die im Titel bezeichneten, historischen „Rollenspiele“ auch problematische Menschenbilder transportieren, wird ebenfalls thematisiert. Puppen und Figuren spiegeln die vorherrschenden gesellschaftlichen Vorstellungen ihrer Entstehungszeit wider, sie sind Projektionsflächen ihrer jeweiligen Epochen.

In der Ausstellung werden Vorurteile, Rassismus und Sexismus offen angesprochen und durch die Konfrontation mit den Positionen zeitgenössischer Kunst nicht nur kontextualisiert sondern ausgehebelt. Die Ausstellung schafft es, in einer ungewohnten Umgebung mit gut durchdachten kuratorischen Entscheidungen, zu überraschen.

WANN: Die Ausstellung “(K)ein Puppenheim. Alte Rollenspiele und neue Menschenbilder” ist noch bis zum bis 7. Januar 2024 zu sehen.
WO: Münchner Stadtmuseum, St.-Jakobs-Platz 1, 80331 München

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