Märchenwald oder Dystopie?
Simone Fattal in Portikus

30. August 2023 • Text von

Rohe Fabelwesen, aus dem Boden sprießende Pilze, Streitkarren mit Zukunftsvision: Die Kunsthalle Portikus verwandelt sich in der kompakten Schau „The Manifestations of the Voyage“ in eine phantastische Welt zwischen Märchen und Albtraum. Referentiell weist die Personale der in Damaskus geborenen Künstlerin und Verlegerin Simone Fattal auf Wunden der Vergangenheit und ökologische Probleme der Gegenwart hin, mit Blick darüber hinaus. (Text: Florian Gucher)

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Simone Fattal, The Manifestations of the Voyage, 2023, exhibition view, Portikus, Frankfurt am Main. Courtesy of the artist, Balice Hertling, Paris; Greene Naftali, New York; Galerie Hubert Winter, Vienna; kaufmann repetto, Milan/New York; Karma International, Zurich; and Galerie Tanit, Munich/Beirut. Photography by Wolfgang Günzel.

Die mythischen Gestalten in Simone Fattals deutschlandweit ersten großen Einzelausstellung „The Manifestations of the Voyage“ im Portikus fungieren in erster Linie als Platzhalter: Humbaba wird als Wächter des Zedernwaldes von Gilgamesch – alias der Menschheit – übermannt und seines Waldes beraubt. Seitlich davon erhebt sich ein hölzerner Karren, an den sich ein „Young Man“ anlehnt, der mit den Erbsünden vor Augen am Scheideweg steht. Die auf Akkadisch verfasste Geschichte des ursprünglich in Tontafeln geritzten, circa 2100 bis 1200 v. Chr. verfassten Gilgamesch-Epos, die Fattal zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen nahm, mutet bekannt an. Sie spiegelt den gesellschaftlich rücksichtslosen Umgang mit der Natur bis hin zu Humbabas Tod, der auf einen selbst zurückwirkt. Fattal bringt die Erzählung durch subtile Adaptionen in die Gegenwart.

Kolossal kommt Humbaba daher. Trotz überschaubarer Größe baut er sich zentral auf kleinem Podest im Raum auf. Sein rohes, in Ton gearbeitetes Relief hat etwas Undurchdringbares, doch führt seine Dominanz das menschliche Versagen nur umso deutlicher vor Augen. Nimmt man die Mutter Natur als Ebenbild Humbabas, lässt sich eine Tendenz festmachen: Der mythologische Riese, hier einem Bodyguard nicht unähnlich, wurde vom menschlichen Übermut getötet – wie die Natur selbst, die den menschlichen Eingriffen nur mehr schwer standhält. Klimakatastrophen wie Dürreperioden, Überschwemmungen und Hitzewellen sind Abbild davon.

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Simone Fattal, The Manifestations of the Voyage, 2023, exhibition view, Portikus, Frankfurt am Main. Courtesy of the artist, Balice Hertling, Paris; Greene Naftali, New York; Galerie Hubert Winter, Vienna; kaufmann repetto, Milan/New York; Karma International, Zurich; and Galerie Tanit, Munich/Beirut. Photography by Wolfgang Günzel.

Hinter dem Giganten türmt sich ein Wald aus den hoch gehangenen, eng nebeneinander positionierten Tuschezeichnungen „The Forest“ auf. Die Blätter beginnen nicht nur durch leise, von Betrachter:innen ausgelöste Windstöße zu rascheln, sie weisen über die Räumlichkeit des Portikus hinaus in den durch hohe Glasfenster ersichtlichen, dicht bewaldeten Außenraum der Maininsel. Was sich draußen abspielt, scheint sich im Innenraum zu spiegeln.

Die großformatigen Arbeiten führen Schattentänze auf, in Diskrepanz zum außen wirkt der Wald hier eng, sogar beängstigend. Ein mätopisches Gleichnis tut sich auf: In dem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob angesichts anhaltender Rodungen Selbstverständlichkeiten der Natur wie Wälder in nicht allzu ferner Zukunft, dicht eingepfercht, lediglich in speziell zugewiesenen Glashäusern als Raritäten zu bestaunen sein werden.

In einer Ecke verteilte „Mushrooms“ aus im Elektroofen gebrannten Ton kontrastieren dann durch ihre glatten Oberflächen mit Humbabas tiefen Einkerbungen. Das Verhältnis zwischen Beschützer und Beschütztem, Humabas zu den Pilzen und dem Naturreich, ist ambivalent und kann auch umgekehrt werden. Berücksichtigt man die Rolle der Pilze in der Natur, so schlagen sie unmittelbar die Brücke zur Beschützerfigur zurück. Einem Wächter entsprechend ziehen sie netzartig ihre Fäden durch den Untergrund und halten ein Ökosystem schützend am Leben. Ihre roten Schirme suggerieren hier aber eine gewisse Gefahr. Sie bezieht sich auf das menschliche Leben wie auch auf die vom Aussterben bedrohte Spezies vieler Pilze selbst.

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Simone Fattal, The Manifestations of the Voyage, 2023, exhibition view, Portikus, Frankfurt am Main. Courtesy of the artist, Balice Hertling, Paris; Greene Naftali, New York; Galerie Hubert Winter, Vienna; kaufmann repetto, Milan/New York; Karma International, Zurich; and Galerie Tanit, Munich/Beirut. Photography by Wolfgang Günzel.

Die Dystopie wird schließlich aufgeweicht, aber nicht aufgehoben: Die sinnbildlich für die Generation Z stehende Gestalt des „Young Man“– es könnte jede:r sein – blickt neben dem Holzwagen “The Chariot” stehend in die Zukunft, wobei die Objektgruppe mit der existentiellen Ungewissheit spielt, die vom Paradies bis hin zum Genickschlag reicht. Die Karre selbst ist eigentlich ein Kriegsgefährt, auf dem man ausschließlich stehen, ja eine aktive Rolle einnehmen kann. Sie ist aus auf „natürliche Art“ nämlich durch Unwetterkatastrophen gefallene Bäume produziert. Wobei sich dieser natürliche Tod der Natur relativiert, da er letzten Endes abermals auf menschliches Versagen zurückzuführen ist.

Querverbindungen ziehen sich bis hin zur der in unmittelbarer Nähe befindlichen, aufgrund von Sprengungen und Wetterkapriolen mehrfach rekonstruierten Alten Brücke Frankfurts als Handelsroute wie Kriegsschauplatz. Unmittelbar neben dem Wagen lehnt eine Lyra sowie ein Kriegsbeil, „Young Man“hat die Qual der Wahl: Er kann sich auf den Wagen stellen, die Laute in die Hand nehmen und Musik anklingen lassen oder aber mit dem Beil in den letzten Kampf ziehen.

Kuratorisch betont die Schau im Portikus den Aspekt der Interdisziplinarität. So tut „The Manifestations of the Voyage“ gut daran, Werk und Wirken der Universalkünstlerin Fattal auf einer Ebene zu zeigen, ohne das eine dem anderen überzuordnen. Die installationsartige Gesamtkomposition verschränkt Tätigkeitsbereiche der Künstlerin miteinander: Literatur, bildende Kunst und Geschichte schaukeln sich gegenseitig auf – Fattals Tonarbeit mit sufistischer Lektüre, archäologisches Interesse mit altertümlicher Mythologie, Verlagsarbeit im selbst gegründeten Verlag „The Post-Apollo Press“ und kollaboratives Engagement mit Vermittlungsleistung an der Schnittstelle dreier Kontinente.

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Simone Fattal, The Manifestations of the Voyage, 2023, exhibition view, Portikus, Frankfurt am Main. Courtesy of the artist, Balice Hertling, Paris; Greene Naftali, New York; Galerie Hubert Winter, Vienna; kaufmann repetto, Milan/New York; Karma International, Zurich; and Galerie Tanit, Munich/Beirut. Photography by Wolfgang Günzel.

Die enge Zusammenschau zwischen Literatur, Skulptur, Grafik und archäologischem sowie mythologischem Wissen ist der kompakten Räumlichkeit verschuldet, liegt aber auch dem kuratorischen Gedanken zugrunde. Zum Ausdruck bringt das auch das zu einem bibliothekarischen Freiraum umfunktionierte Untergeschoss des Portikus mit Sitzinsel und -höckern. Von Fattal herausgegebene Bücher mit kunstvollen Covers, umrahmt von einer Wandzeichnung – auch hier ein Link zwischen visueller und literarischer Ebene – tun sich in luftiger Anordnung im Wandregal auf. Am Ende, als Epilog, zu sehen: Zwei wiederentdeckte Papierservietten mit verschlungener Handschrift Fattals und Etel Adnans, ihrer im Jahr 2021 verstorbenen Partnerin. Das kollaborativ entstandene Ephemera mit der Aufschrift „The Manifestations of the Voyage“ treibt die Verbandelung im Privaten fort – als intellektuelle wie persönliche Verbindung zweier Seelenverwandter. 

Die einzelnen Positionen der Ausstellung changieren gekonnt zwischen Tragik, Resignation und Hoffnung. Besucher:innen die sich durch „The Manifestations of the Voyage“ bewegen, haben die Fehler der Vergangenheit vor Augen, doch die Zukunft in den Händen. In Fattals Inszenierung scheint der Klimakollaps noch aufhaltbar, wenngleich sie ohne erhobenen Zeigefinger auskommt. Die Künstlerin setzt ihre Hoffnung in die heutige Generation, „Young Man“ spricht Bände. Stellt sich nur die alles entscheidende Frage, ob er zu Gilgamesch oder zum Nachfolger Humbabas mutiert.

WANN: Die Ausstellung „The Manifestations of the Voyage“ von Simone Fattal läuft bis Sonntag, den 24. September.
WO: Portikus, Maininsel, Alte Brücke 2, 60594 Frankfurt am Main.

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