Rosarot und schwer zu schlucken
Tomás Espinosa bei Schierke Seinecke

15. März 2023 • Text von

Die Ausstellung “What is the Glory behind the Hole?” von Tomás Espinosa hüllt die Frankfurter Galerie Schierke Seinecke derzeit in ein rosarotes Licht. Wirken die objekthaften Arbeiten auf den ersten Blick zwar spielerisch, so entfalten sie bei genauerer Betrachtung doch nicht weniger als das Abbild einer gelebten Realität, welches die Ernsthaftigkeit der Werkschau beleuchtet. (Text: Naomi Rado)

thomas espinosa schierke seinecke gallerytalk 4
Tomás Espinosa: “What is the Glory behind the Hole?”, Schierke Seinecke, Frankfurt am Main, 2023. Courtesy of Schierke Seinecke.

Geht man derzeit durch die Frankfurter Niddastraße, kommt man nicht umhin, vor dem Schaufenster der Galerie Schierke Seinecke innezuhalten. Schon von außen entfaltet sich der immersive Charakter der Ausstellung “What is the Glory behind the Hole?” von Tomás Espinosa. Von der hinteren Deckenhälfte des Raumes strahlen Neonröhren und tauchen die Ausstellung in einen alles durchdringenden pinken Schein. Das Pink wiederholt sich etwas blasser in den gleichförmigen, ovalen Keramikskulpturen der Serie “Ein Sommer in Berlin”. Sie sehen nicht nur wie Tabletten aus, sondern sind auch mit der Dosis eines spezifischen Präparats geprägt. 

Das Motiv der Tablette ist in der Popkultur mittlerweile zum eigenständigen Symbol verschwörungstheoretischer Ideologien geworden. Eingebettet in das Narrativ von “red pill” und “blue pill”, stellvertretend für die Dichotomie von vermeintlicher Erkenntnis und Unwissenheit, werden solche Ideologien besonders von Alt-Right- und Manosphere-Bewegungen im Internet propagiert.

Auch die “pink pill” findet sich in variierender Bedeutung bei mehreren Online-Kulturen wieder, deren Mitglieder ihre abstrusen Ideen in Foren wie Reddit und 4chan diskutieren. Darunter findet sich etwa auch die abwegige und transphobe Fantasie, dass eine von Frauen regierte Welt Männer indoktriniere, nicht-binäre und Transidentitäten anzunehmen, um damit die “Feminisierung der Gesellschaft” voranzutreiben. Ob Espinosa die Auseinandersetzung mit dem Internet-Phänomen der Tablette als Referenz heranzieht, sei dahingestellt, doch entgegen all der spekulativen Wahnvorstellungen um sie eröffnen Espinosas “pinke Pillen” eine Wahrheit, die auf Fakten und situiertem Wissen aufbaut. 

thomas espinosa schierke seinecke gallerytalk
Tomás Espinosa: “What is the Glory behind the Hole?”, Schierke Seinecke, Frankfurt am Main, 2023. Courtesy of Schierke Seinecke.

Fein säuberlich in regelmäßige Areale von 30 bis 31 aufgeteilt und gestapelt wirken die Pillen auf der rechten Seite des vorderen Ausstellungsraumes fast wie Einheiten einer militärischen Formation. An anderer Stelle häufen sie sich willkürlich und behalten doch stets ihre pedantische Mengenaufteilung bei. Durch die Beschriftung “572 Tri” sowie den Gesamtumfang der Serie, die aus 365 Keramiken besteht, verweist der Künstler unmissverständlich auf den Lebensalltag einer Person mit HIV-Erkrankung: Triumeq heißt das Präparat, das sich hinter der Beschriftung “572 Tri” verbirgt und tatsächlich gleichen die Skulpturen bis auf ihre stärkere, rosa Färbung und ihre Größe der Tablette.

Das Medikament, das seit 2014 in der EU zugelassen ist, dient der Senkung der HI-Viruslast. Auf der jahrzehntelangen Suche nach Aids-Heilmitteln und einem präventiven Schutz vor der Ansteckung, etwa in Form eines Impfstoffs, stellt die medikamentöse Behandlung mit Triumeq zwar nur einen kleinen, aber dennoch einen Durchbruch dar, denn sie wirkt der Schwächung des Immunsystems entgegen und verhindert somit den Ausbruch von mit Aids verbundenen Folgeerkrankungen. 

Damit mimt die truppenartige Aufstellung der Tabletten im Ausstellungsraum gewissermaßen wirklich die Kampfkraft einer Armee, deren Waffen jedochdem Überleben dienen. Die Komposition der Keramiken im Ausstellungsraum der Galerie Schierke Seinecke richtet sich dabei konkret am Monatsbedarf der Tabletten für eine Person aus. Die Kosten einer Jahresdosis der Medikation liegen bei etwa 11.600 Euro. Wichtig ist dies deshalb zu nennen, weil die Finanzierung des Medikaments in vielen Teilen der Welt den Erkrankten selbst überlassen ist.

thomas espinosa schierke seinecke gallerytalk 6
Tomás Espinosa: “What is the Glory behind the Hole?”, Schierke Seinecke, Frankfurt am Main, 2023. Courtesy of Schierke Seinecke.

So ist es nach wie vor ein zentraler Kritikpunkt des globalen Aids-Aktivismus, dass die Verbesserung lebenserhaltender Bedingungen zumeist bei den Betroffenen selbst liegt und oft an deren Prekarität scheitert. Initiativen wie der 1987 in New York gegründete Interessenverband Act Up machten schon zur Zeit der ersten großen Demonstrationen der 80er-Jahre auf diese menschenfeindlichen Umstände aufmerksam, doch statt zu fallen, steigen die Preise für HIV-Medikamente bis heute sogar noch weiter. Besonders in einem außereuropäischen Kontext muss dies natürlich auch vor dem Hintergrund eines allgemeinen Missstands des Gesundheitssystems betrachtet werden.

Den Stellenwert von Triumeq verdeutlicht Espinosas raumgreifende Inszenierung sowohl durch die Masse an Objekten, als auch durch ihre Maße. Die zehnfach vergrößerten Skulpturen wirken im Verhältnis zum Originalpräparat fast monumental und erhöhen so das Medikament zum Symbolträger der Hoffnung im Kampf gegen HIV. An den Stellen der Ausstellung, wo die Pillen nicht akkurat gestapelt sind, sondern wie lose auf- und nebeneinander geschüttet wirken, liegt die Assoziation mit den Bonbon-Installationen von Félix González-Torres nahe. Auch sie entstanden aus der Auseinandersetzung des Künstlers mit Aids, konkreter, aus der Aufarbeitung des Todes seines Partners durch eben die Krankheit, an der González-Torres schließlich selbst starb.

Gonzalez-Torres’ Arbeiten zeichnen sich gemeinhin dadurch aus, dass einzelne Bonbons über den Verlauf der Ausstellungsdauer schwinden und somit symbolisch auch das Körpergewicht des erkrankten und verstorbenen Ross Laycock. Obgleich Espinosas Installation nicht dieselbe Art von Prozessualität vollzieht wie Gonzalez-Torres’ “candy works”, kennzeichnet auch sie eine zeitliche Komponente. Bei Espinosa spitzt sich der prozessuale Aspekt der Werke durch die motivische Vervielfältigung zu. Ähnlich wie eine Strategie der Pop-Art der 60er-Jahre, die repetitive Bildelemente nutzte, um die ausbeuterischen Mechanismen des Kapitalismus aufzugreifen, lassen sich Espinosa Arbeiten als Kritik an den pharmazeutischen Produktions- und Distributionsbedingungen lesen und weisen zugleich auf den Krankheitsverlauf selbst hin.

Brachte etwa Warhol gleich eine ganze Regalfüllung an Tomatensuppen auf die Leinwand und schlug damit zugleich die Brücke zum Warencharakter der Kunst, erschöpft sich in der ständigen Wiederholung bei Espinosa die Wirkung des Tablettenmotivs. Endlos ließe sich die Reihe fortsetzen, die so fast einen Effekt von Überdruss produziert, ohne dabei ein Surplus hervorzubringen. Es scheint, als wolle der Künstler damit einen geistigen Zustand aufrufen, welcher der täglichen Einnahme des Triumeq-Präparats gleichkommt. So ist es eben nicht ein auf 365 Tage begrenzter Zeitraum, in dem die Tabletten einzunehmen sind, sondern ein kontinuierlicher Vorgang, dessen Ende und Dauer ungewiss bleiben.

thomas espinosa schierke seinecke gallerytalk 5
Tomás Espinosa: “What is the Glory behind the Hole?”, Schierke Seinecke, Frankfurt am Main, 2023. Courtesy of Schierke Seinecke.

Zur Verstärkung dieses Zustandes trägt auch die Serie “Es war ein langer Weg, sich an die schönen Tage zu erinnern I-III” bei. Obwohl die aus Kugeln zusammengesetzten Keramikskulpturen der Serie in dunklen, spiegelnden Tönen vor allem abstrakt wirken, lassen sich an zwei von ihnen Elemente von MK-II-Granaten erkennen. Das größte Werk der Serie, “III”, bestehend aus vier Kugeln und einem Granatenfragment, ist darüber hinaus verkabelt und durch einen Vibrationsmotor in Bewegung versetzt. Nur die hochglänzende Oberfläche des Objekts lenkt ab von der Vorstellung, es handele sich hierbei um eine Zeitbombe, deren Explosion sich jeden Moment ereignet. Doch es gibt keinen Ausbruch und so verweilt das Objekt im Zustand des andauernden Brodelns.

Espinosas Arbeit konserviert ein Gefühl der Ungewissheit, ein Warten ohne Ziel, und setzt es thematisch mit der Krankheitserfahrung in Kontext. Metaphorisch trägt sich in der Arbeit der Konflikt zwischen Innerem und Äußeren aus und verbildlicht sich als Dissonanz der unversehrten Hülle und des instabilen Kerns. Mag die Oberfläche intakt erscheinen, offenbart sich doch im Verborgenen das Ausmaß des Chaos. Auch das Motiv der Granate erlaubt die erneute Verknüpfung zum Kriegssujet, sodass sich ein Abbild des Krankheitsverlaufs ergibt, das im überhöhten Symbolcharakter der Werke einem Kampf gleicht. 

thomas espinosa schierke seinecke gallerytalk 3
Tomás Espinosa: “What is the Glory behind the Hole?”, Schierke Seinecke, Frankfurt am Main, 2023. Courtesy of Schierke Seinecke.

Neben den skulpturalen Arbeiten ist Espinosas Fotografie-Serie mit dem Titel “Seropositive, not positive I-III” ausgestellt. Die auf durchsichtigen Platten gedruckten Fotografien hängen frei im Raum. Sie wirken nicht nur wegen der Transparenz des Materials äußerst fragmentarisch. Auf ihnen sind bewegte Körper im sexuellen Akt zu sehen, die durch die Belichtung starke Überlagerungen aufweisen. Die Abgebildeten treten so nur als ephemere Gestalten in Erscheinung, die kaum greifbar sind, sodass nur das Bettlaken als dominante Fläche in den Fotografien hervorsticht.

Das Bett umfasst als eines der meist gezeigten Objekte der Kunstgeschichte neben der erotischen Konnotation eine breite Fülle an Bedeutungen. Im Bett wird nicht nur geboren, in ihm vollzieht sich auch der Tod. So ist auch die Dominanz des Bettlakens im Bild nur in seiner Ambivalenz nachvollziehbar als ein Symbol der Lust und des körperlichen Verfalls gleichermaßen.

Im Titel der Fotografieserie, der die Bezeichnungen seropositiv und positiv voneinander trennt, greift Espinosa erneut das die Ausstellung umfassende Thema auf. Als Serostatus wird das An- oder Abwesendsein von Antikörpern gegen bestimmte Krankheitserreger bezeichnet, die mittels Blutuntersuchung, Serologie, nachgewiesen werden. Aus dieser Untersuchung erfolgt das definitive Wissen über den klinisch diagnostizierten Befund. Eine Person, deren HIV-Befund seropositiv ist, war demnach dem Virus ausgesetzt und bildete als Immunreaktion Antikörper.

thomas espinosa schierke seinecke gallerytalk 8
Tomás Espinosa: “What is the Glory behind the Hole?”, Schierke Seinecke, Frankfurt am Main, 2023. Courtesy of Schierke Seinecke.

Mit dem sprachlichen Kniff, “seropositive” und “not positive” voneinander abzugrenzen, eröffnet Espinosa jedoch mehrere Lesarten für den Titel. Könnte er etwa als Aussage zur negativen Gefühlslage betreffend des seropositiven Befundes verstanden werden, so definiert er als Beschreibung zugleich den Begriff der Serodiskordanz. Diese liegt vor, wenn zwei Personen unterschiedlichen Status eine sexuelle Beziehung eingehen.

Besonders innerhalb der Community homosexueller Männer ist die Bezeichnung verbreitet und steht im Bezug zum sogenannten Serosorting. Der Begriff beschreibt einen Vorgang, in dem Personen ihre Sexualpartner nicht nach Sympathie und Anziehung, sondern in Abhängigkeit von ihrem Serostatus auswählen. So gibt es etwa auch aktivistische Tendenzen, die in Hinblick auf die anhaltende Stigmatisierung nicht nur von Menschen mit HIV-Erkrankung, sondern von homosexuellen Beziehungen im Allgemeinen, Serosorting als eine Form von Diskriminierung oder sogar Phobie bezeichnen.

Die Verbindung zu Triumeq liegt auch hier nicht weit, ist es doch mittlerweile durch regelmäßige Medikamenteneinnahme möglich, die HIV-Viruslast auf ein so niedriges Niveau zu senken, dass insbesondere geschützter Verkehr ein nur noch sehr geringes Ansteckungsrisiko birgt. Im Aufgreifen all dieser konkreten Bezüge zur Lebensrealität mit HIV zeigt sich in Espinosas Arbeiten ein Wille zur Entstigmatisierung und Aufarbeitung.

thomas espinosa schierke seinecke gallerytalk 7
Tomás Espinosa: “What is the Glory behind the Hole?”, Schierke Seinecke, Frankfurt am Main, 2023. Courtesy of Schierke Seinecke.

Im Spannungsverhältnis von Form und Inhalt wirken die Titel, die Espinosa für seine Arbeiten wählt, an anderer Stelle jedoch fast träumerisch. Ist ein Sommer in Berlin die Ursache des ernsten Themas, das Espinosa in seiner Kunst verhandelt oder ist Berlin ein Sehnsuchtsort? Kann sich das lyrische Ich, das aus den Titeln spricht, schließlich an die schönen Momente erinnern oder stagniert es im Zustand des Kampfes, der sich in den Arbeiten ausdrückt?

Die großformatige Arbeit “Glory Hole”, die bei Schierke Seinecke als Impulsgeber für den Titel der Werkschau her hält, offenbart, dass Espinosas Arbeiten selten in Eindeutigkeit münden. Stattdessen arbeitet der Künstler mit inhärenter Ambivalenz und offenen Fragen, die seiner Auseinandersetzung mit der eigenen Identität zu entspringen scheinen. So ist etwa auch die Spiegelfläche, auf deren Leistenhöhe sich eine runde Aussparung, ein Glory Hole, befindet, nicht als bloße Hommage an den lustvollen Akt zu verstehen.

Das Loch im Spiegel rekurriert dabei zwar auf die sexuelle Praxis, bei der zumeist fremde Personen anonymen Sex haben und dabei nur über ein Loch in der Wand körperlich miteinander verbunden sind. Durch die lebensgroße Spiegelung der betrachtenden Person verbildlicht die Arbeit jedoch viel eher ein Zurückgeworfensein auf sich selbst, wodurch der sexuelle Akt als zwischenmenschliches Geschehen negiert wird. Im Kontext des Ausstellungstitels “was nun die Herrlichkeit hinter dem Loch sei” stellt sich so auch die Frage nach Konsequenzen dieser Praxis, in der keine intime Bindung zu einer anderen Person gesucht wird, sondern die Befriedigung der Lust vorrangig bleibt.

thomas espinosa schierke seinecke gallerytalk 2
Tomás Espinosa: “What is the Glory behind the Hole?”, Schierke Seinecke, Frankfurt am Main, 2023. Courtesy of Schierke Seinecke.

Es scheint, als zehrten viele der Werke Espinosas von einer Melancholie, die weder vollkommen in Trauer noch in Wohlgefallen aufzulösen ist. Dass Espinosa für die gewählte Thematik den gesamten Ausstellungsraum gerade in einem starken Pink flutet, untermauert die sprachliche Komponente der installativen Werkzusammenhänge. “To be in the pink” meint im englischen Sprachgebrauch nichts anderes, als bei bester Gesundheit zu sein. Paradox wirkt es fast, wie die von Weitem so harmlose Ausstellung sich in der Detailbetrachtung in einen gesellschaftskritischen Anstoß wandelt, sich mit der Stigmatisierung und der Lebensrealität von an HIV erkrankten Personen auseinanderzusetzen. Mittels informierter Details und einer starken Bildsprache entzaubert Espinosa wortwörtlich den Blick durch die rosarote Brille.

WANN: Die Ausstellung “What is the Glory behind the Hole?” von Tomás Espinosa läuft bis Samstag, den 18. März.
WO: Schierke Seinecke, Niddastraße 63, 60329 Frankfurt am Main.

Weitere Artikel aus Frankfurt am Main