Der Turner-Effekt
William Turner im Lenbachhaus

19. November 2023 • Text von

William Turners romantische Landschaften sind heute Ikonen. Doch neben großer Bewunderung musste sich Turner auch heftige Kritik an seinem Stil anhören. Eine Ausstellung im Lenbachhaus zeigt nun Werke, die der britische Maler niemals der Öffentlichkeit präsentierte. Aber ist die Schau auch für zeitgenössische Künstler*innen von Belang?

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Schneesturm – Ein Dampfschiff im flachen Wasser vor einer Hafeneinfahrt, ausgestellt 1842, Joseph Mallord William Turner (1775-1851). Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856 © Photo Tate

Den britischen Maler Joseph Mallord William Turner (1775–1851) kann man gut und gerne als “Wunderkind” bezeichnen. In London geboren und aufgewachsen, wurde er mit gerade mal 14 Jahren Mitglied der Royal Academy. Vorher stellte sein Vater, ein Barbier und Perückenmacher, die Bilder seines Sohnes im Schaufenster seines Geschäfts aus. Turners Karriere verlief steil, heute gilt er als einer der bedeutendsten Künstler seines Heimatlandes. Viele sehen in seinen Arbeiten moderne, impressionistische, ja sogar abstrakte Malerei. Sein Nachlass umfasst 30.000 Werke, davon etwa 300 Gemälde. Einen Teil davon zeigt nun das Münchener Lenbachhaus in der Ausstellung “Turner. Three Horizons”. Gleichzeitig zeigt die Schau auch Parallelen zu Karrieren heutiger Künstler*innen.

Die Ausstellung folgt einer klaren Struktur: Auf der linken Seite des Kunstbaus hängen die Werke, die Turner der Öffentlichkeit präsentierte. Die Kurator*innen haben sie den unveröffentlichten Arbeiten des Künstlers gegenübergestellt. Warum sie sein Studio nie verlassen haben, ist oft ebenso unklar wie die Frage, ob es sich um vollendete oder unfertige Werke handelt. Dass manche Arbeiten niemals das Licht der Öffentlichkeit erblicken und ein ewiges Dasein im Atelier fristen, werden auch heutige Künstler*innen nur zu gut kennen. “Three Horizons” ist chronologisch aufgebaut, es lässt sich also anschaulich nachvollziehen, wie sich Turners Stil im Laufe der Zeit – sowohl öffentlich als auch privat – verändert hat. Auffällig ist die stilistische Annäherung der linken und der rechten Seite im Laufe der Zeit. Historische Themen, die hauptsächlich durch die Royal Academy beeinflusst waren, vernachlässigte Turner mehr und mehr. Stattdessen wurde seine Malerei immer diffuser und seine Studien immer abstrakter.

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Küstenlandschaft und Gebäude, Südfrankreich oder Süditalien (?), ca. 1834, Joseph Mallord William Turner (1775-1851). Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856 © Photo Tate

Mit Kunst auf prägende Ereignisse zu reagieren, ist keinesfalls ein zeitgenössisches Phänomen. Auch das Umfeld, in dem Turner aufwuchs, hielt viele Neuerungen bereit. Es war das Zeitalter der Dampfmaschine: Das Leben vieler Menschen veränderte sich rasant, Maschinen übernahmen immer mehr Aufgaben, in Städten entstanden große Fabriken und die industrielle Revolution war in vollem Gange. Lokomotiven durchquerten rasend das Land. Die Menschen, die sich vorerst noch vor den rauchspeienden Drachen fürchteten, gewöhnten sich schnell an das komfortable Reisen mit dem Zug. Diese Ereignisse prägten Turner und er hielt diese Szenarien der Industrialisierung, etwa Schiffe im Sturm oder dampfende Eisenbahnen, in seinen Darstellungen fest.

Auch das Netzwerken und Knüpfen neuer Kontakte war für Turner relevant. Er unternahm zahlreiche Reisen, etwa nach England und Wales und hielt sich 1819 in Italien auf. Doch seine bekannten Bilder, die den Blick auf den Canal Grande in Venedig zeigen, entstanden erst viele Jahre später, ab 1833. Angeblich hat er sein erstes Venedig-Bild innerhalb von drei Tagen gemalt, nämlich als er erfuhr, dass ein anderer Künstler ebenfalls an einem solchen Werk arbeitete. Derartige Erzählungen untermauern ein Klima der Konkurrenz in Londons Kulturszene und sprechen für Turners kompetitives Ego. Sein Kampfgeist zahlte sich aus. Ab diesem Zeitpunkt verkaufte er mehrere Venedig-Bilder im Jahr und konnte von diesen Erlösen leben.

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Riva degli Schiavone, Venedig: Fest am Wasser, 1845-46, Joseph Mallord William Turner (1775-1851). Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856 © Photo Tate

Doch die Kritik an Turner nahm stetig zu. Weil seine nebelhafte Malweise vielen zu weit ging, musste er sich den Spitznamen “Over-Turner” gefallen lassen, der seinen Stil als übertrieben tadelte. Besonders viel Häme brachten ihm seine für die damalige Zeit modernen Bildkompositionen ein. Die Horizontlinie löste sich zusehends auf und seine “unfertigen” Bilder wurden mit großer Skepsis beäugt. Als Reaktion darauf gründete Turner kurzerhand seine eigene Galerie. Dort und in seinem Atelier trieb er die Auflösung immer weiter, was sich im Lenbachhaus anschaulich beobachten lässt. Für die Generationen nach ihm ist es spannend, diese mutigen Entscheidungen aus heutiger Perspektive nachzuvollziehen.

Turner produzierte Gemälde mit mehreren Horizonten, die er dann auseinanderschnitt und aus ihnen mehrere Arbeiten machte. Das Bild mit den drei Horizontlinien, nach denen die Ausstellung benannt ist, erinnert tatsächlich etwas an ein abstraktes Gemälde von Mark Rothko. Letzterer soll Jahrzehnte später im Scherz behauptet haben, Turner habe sich wohl von ihm inspirieren lassen. Der zeitgenössischen Kritik begegnete Turner mit gekonnter Selbstinszenierung: Oft malte er seine Bilder in kürzester Zeit, manchmal verpasste er ihnen noch während der Aufbauzeit seiner Ausstellungen den letzten Schliff. Außerdem prägte er die Legende, sich für die Produktion seines Gemäldes “Schneesturm” am Mast eines Schiffes festgebunden zu haben, um das Bild aus dem Auge des Sturms heraus zu malen. Eine Geschichte, die zeigt, dass ein ausgeprägter Künstlermythos auch vor mehreren hundert Jahren schon die halbe Miete war.

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Vorlesungsdiagramm 21: Perspektivische Darstellung eines Globus (nach Thomas Malton Senior), ca. 1810, Joseph Mallord William Turner (1775-1851). Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856 © Photo Tate

Ein Lehrauftrag ist für viele Künstler*innen ein wichtiger Schritt auf der Karriereleiter. Auch Turner lehrte als Professor an der Royal Academy, die Rhetorik zählte aber weniger zu seinen Stärken. Doch obwohl die Studierenden ihn wegen seines Cockney-Akzents und seiner undeutlichen Aussprache kaum verstanden, waren seine Vorlesungen bestens besucht. Das Lenbachhaus präsentiert einige seiner Vorlesungsdiagramme, die hierzulande noch nie gezeigt wurden. Die modernistischen Zeichnungen funktionierten wie heutige Power-Point-Slides und wurden von einem Assistenten begleitend zu Turners Ansprache in die Höhe gehalten.

William Turner habe durch seine Kunst Klassengrenzen überwunden, sagt Kuratorin Karin Althaus und spielt darauf an, dass der Maler keineswegs aus einer wohlhabenden Familie kam. Die Kombination von Talent, gezielter und früher Förderung sowie einem einzigartigen Netzwerk waren wohl sein Erfolgsrezept. Was im Lenbachhaus noch deutlicher wird, ist das Nachwirken des Künstlers: Fast könnte man von einem “Turner-Effekt” sprechen, wenn man sich seinen Einfluss ansieht. So lassen sich zeitgenössische Künstler*innen nicht nur von seiner Malweise, sondern auch von Turners Umgang mit Kritik, der Hege und Pflege des Künstler-Egos und den zahlreichen Strategien seiner Selbstvermarktung inspirieren.

WANN: Die Ausstellung “Turner. Three Horizons” ist noch bis 10. März 2024 zu sehen.
WO:
Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau, Luisenstraße 33, 80333 München.

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