Gesellschaftliche Verrenkungen Alessandro Bostelmann und Witalij Frese in der Galerie Heldenreizer Contemporary
5. April 2024 • Text von Julia Anna Wittmann
Nacktheit irritiert – gerade wenn sie nicht im Zusammenhang mit sexuellen Handlungen steht. Alessandro Bostelmann und Witalij Frese zeigen in der Ausstellung “Corporealities” in der Galerie Heldenreizer Contemporary Malereien und Keramiken mit viel nackter Haut. Ihre Arbeiten werden zum Ausgangpunkt für Überlegungen zu Geschlechtlichkeit, Vergänglichkeit und gesellschaftlicher Normen.
Die nackten Körper auf Alessandro Bostelmanns Gemälden ecken an. Überdimensional lange, schlanke Gliedmaßen stapeln sich auf den Leinwänden. Die makellosen Figuren scheinen eingeengt, ihre Beine und Arme liegen zusammengefaltet und sorgsam über- und nebeneinander drapiert auf den Bildträgern, Gesäße werden in die Luft gereckt und Rücken durch gebogen. Mal alleine, mal in Gesellschaft gehen die abgebildeten Personen mehr oder weniger alltäglichen Beschäftigungen nach, die sie lethargisch ausführen. Die nackten Körper scrollen am Handy, rauchen, putzen oder schneiden sich ein Ohr ab – eingeengt in sterilen Wohnungen und leeren Räumen.
Der Van-Gogh-Referenz rollt eine Träne über das glatte Gesicht während er sich über einen Tisch gebeugt die Schere zum Ohr führt. Bostelmanns Figuren zuzusehen ist nicht nur aufgrund ihrer körperlichen Verrenkungen unbequem. Der Künstler kreiert eine beklemmende Atmosphäre in der vertraute Alltagssituationen zu absurden Fiktionen werden. “Room Cleaning Orgy” zeigt mehrere nackte Personen, männlich und weiblich gelesen, die akribisch eine sporadisch eingerichtete Wohnung reinigen. Ihre Körper erscheinen zu groß im Verhältnis zu den Räumen. Eingeengt gehen sie der Tätigkeit nach, nah beeinander und trotzdem isoliert, arbeiten sie zwanghaft am gesellschaftlichen Idealbild eines sauberen Eigenheims.
Der nackte Körper ist auch in Witalij Freses Arbeiten zu finden. Bruchstückhaft arbeitet sich der Künstler an dem körperlichen Verfall der menschlichen Existenz ab, stellt heteronormative Geschlechterbilder in Frage und erkundet Identitätsbildung. Die skulpturale Brunnenkonstruktion “Aufbau/Abbau” zeigt weibliche sowie männliche Gleschtsteile, aus denen tröpfchenweise das Wasser nach unten ins Becken fließt. Zwischen den einzelnen Brunnenebenen lassen sich reduzierte Zeichnungen erkennen, die ganze Figuren und auch Körperteile darstellen – geschlechtslose Köpfe, Arme, Torsi und Beine zieren den Rumpf des Objekts.
Ebenfalls geschlechtslos präsentiert sich Freses Keramik Arbeit “Last auf der Brust”. Eingedrückt, wie eine leere Hülle aus dicker Haut wölbt sich ein lebensgroßer Abdruck eines Torsos an der Galeriewand. Eingefallen und verformt ist die Geschlechtlichkeit des Körperfragments nicht eindeutig zu bestimmen. Die Arbeiten des Künstlers zeigen keine Idealkörper, seine Darstellungen sind dekonstruiert, asymmetrisch und unproportional. Beinahe kränklich erscheinen die dünnen Gliedmaßen und haarlosen Köpfe, die Frese auf den glasierten Gefäßen darstellt. In den Arbeiten “Ausfall (Haare)”, “Ausfall (Zähne)” und “Ausfall (Nägel)” integriert der Künstler organisches Material und verweist auf den körperlichen Verfall, den jeden Menschen ereilt.
Bostelmann und Frese zeigen beide schlanke nackte Körper, die auf eine sehr irritierende Art und Weise nicht den gesellschaftlichen Idealbildern entsprechen. Ihre Körper sind verformt, bruchstückhaft und kränklich. Sie müssen sich verbiegen, um nicht von der Leinwand zu fallen. Sie entziehen sich Geschlechterrollen und spielen mit der eigenen Vergänglichkeit. Die körperlichen Fragmente der “Corporealities” in der Galerie Heldenreizer Contemporary bieten eine Projektionsfläche für die Besucher*innen, sich mit der eigenen Körperlichkeit auseinandersetzen. Wenn wir ehrlich sind, verbiegen wir uns täglich, um gesellschaftlichen Normen zu entsprechen.
WANN: Die Ausstellung “Corporealities” läuft bis 26. April.
WO: Heldenreizer Contemporary, Türkenstraße 32, 80333 München.