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Aura Rosenberg bei RL16

22. Juni 2022 • Text von

Die Ausstellung “Berlin Childhood + The Angel of History” von Aura Rosenberg bei RL16 ist ein offenes Buch. Die überwiegend fotografischen, aber auch skulpturalen und filmischen Arbeiten der Künstlerin stehen immer in einer Beziehung zu einem Text Walter Benjamins, schalten dabei aber eine Aktualität dazu. Aus den Werken können gleich mehrere Geschichten herausgelesen werden.

Aura Rosenberg, Berliner Kindheit (Das Pult (Praxis Dr. Kössendrup)), 1999, Courtesy the artist and RL16, Berlin
Aura Rosenberg, “Berliner Kindheit (Das Pult (Praxis Dr. Kössendrup))”, 1999, Courtesy of the artist and RL16, Berlin.

Durch diese Show wird flaniert. Zeit verstreicht, keine Eile. In die Aura Rosenbergs Werke bei RL16 kann sich buchstäblich eingelesen werden. Ihre Werkserien erzählen die Geschichten Walter Benjamins “Berliner Kindheit um neunzehnhundert” und “Engel der Geschichte” nach, knüpfen an sie an und sind so etwas wie ihr verlängerter Arm, der ins Heute hereinreicht. 

Ein Engel mit aufgerissen Augen und gespreizten Flügeln, der Angelus Novus ist eine kleine Zeichnung Paul Klees, die Benjamin zu seinem berühmtesten Text “Engel der Geschichte” inspirierte, der mit Rosenberg nun wieder bildlich geworden ist. Der Kreis schließt sich. Wie Benjamin selbst in den ersten Zeilen seines Textes schreibt, scheint der Engel “[…] im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt.”

Verängstigt von den aktuellen Ereignissen schrecken auch Rosenbergs Engel zurück. Sie hat sie auf aktuelle Zeitungen gedruckt, auf deren Seiten sie fein und ganz zaghaft herüber schweben. Sie scheinen der Welt, in der Krieg, Pandemie und Trump mitmischen den Rücken kehren zu wollen, ihre zarten Körper könnten beim nächsten Augenzwinkern die Seiten bereits verlassen haben. Wer kann es ihnen verdenken.

Aura Rosenberg, “Berlin Childhood + The Angel of History”, Ausstellungsansicht, Courtesy of the artist and RL16, Berlin, Foto: Jens Ziehe.

Die 9-teilige Serie “Black Noise (The Angel of History)” spitzt es zu, zeigt eine comichafte, düstere Welt in Trümmern, in der die Engel eine surreale dystopische, aber doch erschreckend reale Wirklichkeit bestaunen oder bedauern. Ein Engel sieht aufrechtgehenden Primaten dabei zu, wie sie die ersten Schritte gehen und scheint ihnen, in einer leeren Gedankenblase angedeutet, ihre die Zukunft betreffenden Bedenken zuraunen zu wollen. Die technische Entwicklung schreitet fort, die Primaten wandern an antiken Gemäuern vorbei in Richtung Stahlträger. Eine Figur in kompletter Rüstung tritt in den Vordergrund und verdrängt, zerschlägt die Welt der Engel und Affen. Die Serie ist ein dystopischer Zeitstrahl – obwohl? So dystopisch ist er leider gar nicht, schon Benjamin hat ihn kommen sehen und Rosenberg leitet ihn weiter in die Ist-Zeit, wo er in Berlin-Mitte aufprallt, wie ein kleiner Komet.

Detail aus: Aura Rosenberg, “Black Noise (The Angel of History)”, 2006, Courtesy of the artist and RL16, Berlin, Foto: Jens Ziehe.

Vor der Serie steht eine kleine vergoldete Siegessäule, “The Missing Souvenir”. Die Siegessäule ist eine auf dem Souvenirmarkt verdrängte Figur, vielleicht ein kleiner Versuch die Geschichte ihrer heutigen Gestalt zu canceln, aber das will Rosenberg nicht. In “Berliner Kindheit um neunzehnhundert” schreibt Benjamin, wie er die Sedantage an der Säule als Kind erlebt hat. Es waren eindrucksvolle Tage, die an den aufgerissenen Augen des Jungen vorbeigezogen sind. Der Tag, wie auch die Säule, erinnerten damals noch an die siegbringende Schlacht der deutschen Truppen im Deutsch-Französischen Krieg im Jahr 1870.

RL16, Aura Rosenberg, Berlin Childhood + The Angel of History, Ausstellungsansicht
Aura Rosenberg, “Berlin Childhood + The Angel of History”, Ausstellungsansicht, Courtesy of the artist and RL16, Berlin, Foto: Jens Ziehe.

Die Nationalsozialisten setzten die Säule 1938-39 an ihren heutigen Standort, vorher stand sie vor dem Reichstagsgebäude, da sie dem Großprojekt “Welthauptstadt Germania” im Zentrum der Ost-Westachse der Stadt dienlicher war. Sie wuchs in Breite und Höhe. Der Sedantag musste nationalsozialistischen Militärparaden weichen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Goldelse, die bronzene Viktoria, die Siegesgöttin, wie ein “Engel der Geschichte”, der sich jederzeit von seiner vorbelasteten Befestigung lösen könnte. Rosenbergs Siegessäule erzählt die ganze Geschichte einfach, weil sie noch aus drei anstatt vier Trommeln besteht. 

Der Film “Berliner Kindheit” läuft im Hintergrund. Eine Kinderstimme liest Passagen aus Benjamins gleichnamigen Text, während zwei verwilderte Hunde durch eine steinige, leblose Landschaft streunen. Das lesende Mädchen ist Benjamnis Urenkelin Lais. Rosenberg lernte Lais Mutter Chantal Benjamin im Zuge ihrer Recherchen kennen und sie wurden Freunde. Ihre Kunst brachte sie dem Autor in jeder Hinsicht näher, ihre Leben haben Schnittstellen bekommen. Die süße Stimme versus die raue sandige Landschaft destillieren die in den Texten omnipräsent liegende Verunsicherung schaurig-schön heraus.  

RL16, Aura Rosenberg, Berlin Childhood + The Angel of History, Ausstellungsansicht
Aura Rosenberg, “Nähkasten”, 2004/2022, Courtesy of the artist and RL16, Berlin, Foto: Jens Ziehe.

Im Vorbeigehen an einem Wandteppich mit zwei Blumen bekränzten Figuren, zu der sich Rosenberg durch Benjamins Prosa “der Nähkasten” inspiriert sah, überträgt sich ein nostalgisches Gefühl. Allein das gedulderfordernde Handwerk, das dieser Wandteppich verkörpert, entschleunigt und zeigt gleichzeitig, wie schnell die heutige Zeit geworden ist. Die Geduld ist weitestgehend eine Tugend der Vergangenheit.

Und dann ist da noch der Kitsch, die heile pastellfarbene Welt in der blühenden, saftig grünen Natur des Motivs. Ein Stickrahmen umkreist einen Teil des Teppichs, einen vermeintlich unbedeutenden, eine Nadel steckt darin, von der aus sich Garn zum Boden hangelt und eine Verbindungslinie, eine Erdung zum gegenwärtigen Raum schafft. Der bunte Garnhaufen auf dem Galerieboden passt nicht zum Teppich, es sind andere, aufdringlichere Farben, viel bunter, expressiver, wie es heute wohl geworden ist.

RL16, Aura Rosenberg, Berlin Childhood + The Angel of History, Ausstellungsansicht
Aura Rosenberg, “Berlin Childhood + The Angel of History”, Ausstellungsansicht (aus der Serie Berliner Kindheit, 1996–2001), Courtesy of the artist and RL16, Berlin, Foto: Jens Ziehe.

Das Zentrum der Ausstellung bildet die Fotoserie “Berliner Kindheit”, aus der 24 Fotos zu sehen sind. Jedes Foto bildet ein zeitgenössisches Pendant zu einem Kapitel, einer Passage aus Benjamins literarischer Vorlage ab. Es sind sehr persönliche Bilder, die teilweise die Tochter der Künstlerin zeigen, wodurch sie ihre eigene Realität im Rahmen Benjamins reflektieren.

Eines zeigt ihre Tochter beim Fangen von Schmetterlingen. Es referiert auf das Kapitel “Schmetterlingsjagd“, in dem Benjamin das sommerliche Spielen und Fangen verschiedener Schmetterlingsarten erinnert.  Es zeigt einen friedlichen familiären, beinahe intimen Mutter-Tochter-Moment und kann gleichzeitig als Sinnbild des tragischen Suizids des Autors verstanden werden, für den er sich als Gejagter der Gestapo 1940 entschied.

RL16, Aura Rosenberg, Berlin Childhood + The Angel of History, Ausstellungsansicht
Aura Rosenberg, “Berlin Childhood + The Angel of History”, Ausstellungsansicht (aus der Serie “Berliner Kindheit”, 1996–2001), Courtesy of the artist and RL16, Berlin, Foto: Jens Ziehe.

Der Landwehrkanal, die Pfaueninsel – und erneut die Siegessäule, vor der die Love Parade zu Tausenden Konfetti schmeißt. Jedes Foto zeigt auf die Literatur, die heutige Gesellschaft und in das Leben der Künstlerin selbst. Das, was für den kleinen Walter alltägliche Gegenstände waren, wie der Lesekasten, wurden von der Künstlerin heute hinter Vitrinenglas in Museen gefunden. In jedes Foto sollte eingetaucht, in ihm flaniert werden. Mit Geduld können unzählige Geschichten in ihnen entdeckt, womöglich sogar eigene Erinnerungen geweckt werden. Für Besucher*innen mit Geduld und kindlicher Neugierde entfalten Rosenbergs Arbeiten ein vielschichtiges Potenzial und machen Lust, Berlin und die aktuelle Zeit durch Benjamins literarische Brille zu sehen. 

WANN: Die Ausstellung läuft noch bis Samstag, den 6. August.
WO: RL16 (in der 2. Etage), Rosa-Luxemburgstraße 16, 10178 Berlin.

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