Sturzflug auf Shrimpboy
Mary-Audrey Ramirez bei Petra Martinetz

3. Juni 2022 • Text von

In der Kölner Galerie Petra Martinetz hat das große Krabbeln begonnen. Gefangen zwischen Traum und Realität scheint die Zeit still zu stehen, liegt tief empfundene Ruhe im Gewimmel, fasziniert die beinah minimalistische Eleganz der absurden Szenerie. All diese Widersprüchlichkeiten löst Künstlerin Mary-Audrey Ramirez nicht auf. Stattdessen lässt sie hybride Fabelwesen ihre Klauen nach dem schlaftrunkenen Unterbewusstsein ausstrecken und verwehrt sich mit weißen Objekten vor weißer Wand dem schier unaufhörlich anmutenden Bildersturm sozialer Medien.

Mary-Audrey Ramirez, sadness reigns, exhibition view, Galerie Petra Martinetz, 2022, Foto: Tamara Lorenz.

Ein Summen, ein Schwirren, ein Schwärmen. Etwas regt sich im Unterholz, lässt sich nur erahnen bis es gleich einem Gewitter urplötzlich aus dem Himmel bricht: ein Schwarm übergroßer Libellen. Ringsum nun ein hektisches Flügelschlagen, ein taktiles Greifen zur Landung angewinkelter Beine, suchende Blicke aus großen, mintgrünen Augen. Da erspähen die insektoiden Flieger etwas am Boden Liegendes, visieren ihr Objekt der Begierde an und steuern zielsicher darauf zu. Eine Larve gleich einem Riesenbaby, hilflos auf die Seite gekehrt, die kleinen Beinchen haltsuchend in die Luft gestreckt. Ein vielgliedriges, außerirdisch anmutendes Etwas, weich und verletzlich, wie in eine dicke Daunendecke gehüllt, in einen körpereigenen Schlafsack verpuppt. Viele blanke Sehorgane treten als rundliche Erhebungen aus dem Schädel hervor, gleichen Eiern einer fremden Spezies in wunde Augenhöhlen gelegt. Es wirkt, als ob sie schwären, kranken, eitern. Oder sind es Tränen, die es dickflüssig aus liderlosen Facettenaugen treibt? Auf einem Podest aus dem eigenen Saft liegt es da, dieses seltsame Wesen. Woher kommt es und wohin gehört es? Können wir hier Geburt oder Sterben bezeugen? Oder gleich beides, wird doch das eine vom anderen bedingt?

Mary-Audrey Ramirez, sadness reigns, exhibition view, Galerie Petra Martinetz, 2022, Foto: Tamara Lorenz.

In all diesem Gewimmel und Gewusel aber liegt absolute Ruhe. Weiß vor weißem Grund steht die Zeit still, sind die Insekten an der Galeriedecke festgefroren, mitten in der Bewegung am Fuß durchscheinender Säulen erstarrt. Nur die Besuchenden bewegen sich durch Raum wie Zeit, tänzeln um die eigenartigen Flugobjekte, inspizieren die unter einer Schicht aus Weiß begrabene Szenerie. Wer das Handy zückt, sieht auf dem Bildschirm kaum Konturen, wenn die fragilen Objekte mit der weißen Wand verschmelzen. Schwerlich nur lässt sich das absurde Geschehen bannen, gleicht vielmehr einem Naturereignis, einem seltenen Schauspiel, einem Schneesturm in den geschlossenen Räumen der Galerie. Und in eben dieser zwiespältigen Ruhe liegt ein über den Rücken bis zum Nacken hin kriechendes Spannungsgefühl. Was geschieht wohl als nächstes, wenn der Schwarm die Larve erreicht? Ist sie ihr Opfer? Wird es das Geschöpf am Boden unter dem Ansturm der Angreifenden zerreißen? Oder sind die Libellen eine zu Hilfe eilende Armee von Beschützenden, die das fremde Wesen womöglich sogar fortträgt, es in ihrer Mitte heimisch werden lässt?

Mary-Audrey Ramirez, sadness reigns, exhibition view, Galerie Petra Martinetz, 2022, Foto: Tamara Lorenz.

“Shrimpboy” nennt Künstlerin Mary-Audrey Ramirez die speckige Larve. Er gehört zu einem Ensemble aus grotesken Fabelwesen, die zuweilen Videospielen, Filmen oder aber Träumen entsprungen sind. Solchen Träumen, aus denen man nachts aus dem Schlaf hochschreckt, nur um gleich darauf noch finsterer weiterzuträumen. Ramirez spinnt aus diesen fiktiven Welten große Installationen aus schmelzenden Stoffen sowie bunte Stickbilder, die zunächst ganz harmlos daher kommen bis sich die dunkle Kraft der ihnen innewohnenden Narrative entfalten kann. Ihre Arbeiten gleichen der Natur von Schmetterlingen, die von weitem so schön anzusehen, aber ganz nah betrachtet, von genauso unheimlicher Faszination wie all die übrigen Insekten sind. Mit der Nähmaschine, wie mit der Hand auf den Stoff gezeichnet, entstehen gestische Fadenkritzeleien, verdichtet sich das intuitiv geführte Garn an manchen Stellen, wölbt sich in fast plastischem Wellenspiel aus den fixierten Vorstellungsbildern hervor. Dunkle Mächte sind im Liniengewirr präsent, typische Angstbilder, Spinnen, Hexen, Schlangen, Monster, Drachen und mittendrin ein sich auflösendes Ich. Gesichtslos scheint der Mensch sich im Fadenlabyrinth zu verirren, inmitten eines Blutstroms begriffen beinah zu ertrinken und doch zu leuchten, aus sich selbst heraus. Es ist, als ob das schaurig Geträumte mit langen schwarzen Klauen unters Laken greift und auf eben diesem dabei bunt gestickte Spuren hinterlässt.

Mary-Audrey Ramirez, Ranni´s sleep spell, 75x150cm, 2022, Garn auf Leinen.

Ramirez gelingt es, durch Ambivalenzen Spannung zu erzeugen, Härte mittels weicher Stoffe zu suggerieren, die leisen Töne im Lauten hervorzukehren und bunte Bilder aus dunklen Alpträumen zu spinnen. Es sind Bilder, die sich aus unterbewussten Ängsten wie Begehrlichkeiten nähren, bis diese zu fetten Maden heranwachsen und versuchen, uns aus dem eigenen Denken zu verdrängen. Aber nicht nur Befremden ist es, das sich angesichts der Ausstellung “sadness reigns” in der Kölner Galerie Petra Martinetz regt, sondern vor allem Sehnsucht, nach Ruhe, nach Abgeschiedenheit und zugleich Rettung aus melancholischer Traurigkeit. Es ist die Sehnsucht nach einer Welt aus weiß geträumter Stille inmitten eines immerwährenden Bildersturms, einer fortdauernden Informationsflut innerhalb sozialer Medien. So instagrammable das schlichte Design des Reichs der Traurigkeit wirkt, als so unfotografierbar stellt es sich in seiner Nichtfarbigkeit heraus. Der Linse gelingt es nicht, den gedanklich hörbaren Sound der Installation, das durch die Maserung der harzigen Flügel fallende Licht oder vermeintliche Bewegungen der Libellen aus dem Augenwinkel erhascht, einzufangen. Das kontrastlose Ineinanderfließen von Farbe und Form wird vom Algorithmus erbarmungslos abgestraft und macht die Ausstellung zu einem Erlebnis jenseits von Instagram. Zu einem Ort, der neuerliche Entdeckerlust weckt, in bunten Gegenbildern die Fantasie anregt und fast kontemplative Abgeschiedenheit von der Welt entfacht.

Mary-Audrey Ramirez, sadness reigns, exhibition view, Galerie Petra Martinetz, 2022, Foto: Tamara Lorenz.

All diese Widersprüche sind so faszinierend, weil sie nicht aufgelöst werden, in einer diffusen Zone der Unbestimmtheit verbleiben. Weil die Schneelandschaft an die meditative Wüstenwelt des Zen-Games “Journey“, grundsätzlich an die Ästhetik von Videospielen, ein eher männlich assoziiertes Metier, erinnert und doch in traditionell weiblich konnotierte Materialen eingefasst ist. Weil die auf einen Höhepunkt zulaufende Erzählung unmittelbar vor eben diesem unterbrochen scheint und trotzdem in unseren Köpfen weiterläuft. Der Spannungsbogen letztlich nicht abreißt, weil wir in unserem Denken überführt werden, sobald wir allein das Unheimliche im Unbekannten sehen, obwohl die technoiden Zwiewesen uns gleichermaßen fremd wie vertraut sind. Vielleicht regiert an diesem Ort die Traurigkeit, weil Shrimpboy sich entfernt hat von der Welt bis er kollektiv in sie zurückgetragen wird. So wie auch wir uns entfremdet haben von der Natur, die uns als heimische Lebensgrundlage immerzu umgibt. Ist Shrimpboy der erste seiner Art im Angesicht einer neuen Welt oder aber der letzte auf einem Planeten, der im Sterben liegt?

WANN: Die Ausstellung läuft noch bis Samstag, den 25. Juni.
WOGalerie Petra Martinetz, Moltkestr. 81, 50674 Köln.

Wenn ihr mehr über Mary-Audrey Ramirez erfahren wollt, findet ihr hier eine Besprechung ihrer Ausstellung bei Beacon in München von Autor Quirin Brunnmeier oder hier eine Review ihrer Schau bei Russi Klenner in Berlin von Autorin Julia Meyer-Brehm.

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