Titten auf den Tisch
"Beyond Nuclear Family: Around The Family Table" bei Alpha Nova & Galerie Futura

13. April 2022 • Text von

Aus sich eine Familie machen, das treibt viele Menschen an. Mutter-Vater-Kind, diesen Status quo gilt es insgeheim zu erreichen. Da das Konzept nicht für alle passt, setzen die ausstellenden Künstler*innen bei Alpha Nova & Galerie Futura ein großes feministisches Fragezeichen dahinter. Mit “Beyond Nuclear Family: Around The Family Table” gucken Annette Hollywood, Marie Lukáčová, Zoë Claire Miller, Mothers Artlovers, Maternal Fantasies, Sophia Süßmilch, Marie Tučková, Sophie Utikal und weitere Künstler*innen über den Tellerrand.

Beyond Nuclear Family, installation view, alpha nova & galerie futura, 2022.
Beyond Nuclear Family, installation view, alpha nova & galerie futura, 2022. Photo: Carolin Seeliger.

FLINTA*, LGBTQAI+-Familien sind hungrig, dursten nach prickelnden, erfrischenden Konzepten, anderen Familienmodellen als Mutter-Vater-Kind. Bei alpha nova & galerie futura ist der Tisch mit konternden Konzepten und kritischen Blicken gedeckt. An einer langen Tafel mitten im Raum, kann auf neun Stühlen platz- und eine andere Perspektive eingenommen werden. Der Tisch ist Ausstellungsdisplay.

Sophie Utikals textile Arbeit räkelt sich mit seinen hellgelben Tentakeln halb von der Tischplatte. Mit grobem Stich und schwarzem Faden werden die einzelnen Stoffteile zusammengehalten, im Zentrum davon sitzt eine gesichtslose Schwarze Frau, deren Ausdruck aufgrund der fehlenden Mimik ein besonders körperlicher ist. Sie wirkt gelassen, aber auch verletzlich.

Interconnected, Sophie Utikal, textile work, Beyond Nuclear Family, alpha nova & galerie futura, 2022.
Interconnected, Sophie Utikal, textile work, Beyond Nuclear Family, alpha nova & galerie futura, 2022. Photo: Carolin Seeliger.

Der starke Stich, der sich durch die zarten Farben des Stoffes bohrt, bringt eine bedrohliche Komponente in die Arbeit. Die Figur sitzt ruhig da, aber einige der Tentakel haben sich um ihre Beine gewickelt. Einerseits strahlend gelb, andererseits beklemmend eingreifend, haftet ihnen eine trügerische Schönheit an. Utikal setzt die unterrepräsentierte Schwarze Frau und ihre Verletzlichkeit ins Zentrum ihrer Arbeit, hier eröffnet sie die feministische Tafelrunde.

Die zweite Arbeit kann durchgeblättert werden. Das in Kollaboration zusammengestellte Familienalbum vereint fotografische, textliche und grafische Arbeiten von Khairani Barokka, Catherine Biocca, Triple Candie, Lenka Klodová, Michelle Lévy, Laure Prouvost, Egill Sæbjörnsson, Tai Shani und Jakub Woynarowski. Durchblättern und Durchschwelgen von Fotoalben passiert meist in familiären Kontexten – und jetzt auch hier. Allein die taktile Erfahrbarkeit dieser Arbeit setzt eigene Erinnerungen frei und befördert Bilder der persönlichen Familiengeschichte nach oben.

Beyond Nuclear Family, installation view, alpha nova & galerie futura, 2022. Family Album
Beyond Nuclear Family, installation view, alpha nova & galerie futura, 2022. Photo: Carolin Seeliger.

Auf den ersten Seiten des Buches ist ein wild verästelter Stammbaum eingeklebt, der an Gewebe, ineinandergreifende Eierstöcke erinnert. Dann folgt ein perspektivisch kippender Tisch voller benutzter Teller, Spuren frisch verputzter Speisen. Es sind die Hinterlassenschaften einer Familie, der symbolisierte Haushalt vor und nach dem Essen. Stillt da ein Mann ein Kind? Eine Frau mit Bart? Ja und Nein, richtiger wäre FLINT mit Kind. Während geblättert wird, singt Egill Sæbjörnsson “All you have to be; is a family”. In diesem Album, an diesem Tisch allgemein, gibt es alles zu sehen außer “die eine perfekte Familie”.

Auf einem Bücherstapel aus feministischer Lektüre haben es sich Keramikfiguren von Zoë Claire Miller bequem gemacht. “A Whisper Network” besteht aus vier sitzenden Körpern, von denen die mittleren beiden zwei Köpfe haben. So ist es ihnen möglich links eine Nachricht aufzunehmen, während sie eine andere bereits nach rechts weiter flüstern. Sie versinnbildlichen Klatsch und Tratsch, sie sind die personalisierte teuflische Gerüchteküche. Teuflisch, weil sie so etwas wie Hörner haben, nur nicht auf dem Kopf, sondern dort, wo für gewöhnlich Brüste sind. Sie sind nicht weibliche Brust und nicht männlicher Phallus, sondern sinnbildlich non-binär. Ihre Blicke scheinen regelrecht nach Intrigen zu gieren, die Mitteilungen werden mit strenger Ernsthaftigkeit transportiert und mit Sicherheit auch etwas ausgeschmückt. 

A Whisper Network (2020), Zoë Claire Miller, ceramic sculpture, Beyond Nuclear Family, alpha nova & galerie futura, 2022.
A Whisper Network (2020), Zoë Claire Miller, ceramic sculpture, Beyond Nuclear Family, alpha nova & galerie futura, 2022. Photo: Carolin Seeliger.

Auch die Tischdecke dieser Tafel sollte gewürdigt werden. Auf ihr ist in Schrift und Bild fundiertes Infomaterial zu Themenbereichen wie “Parental Goals”, “Family Housing”, “Absence in Family” oder “Family and gender” in wissenschaftsartikelähnlicher Manier aufgedruckt. Sie ist eine große wissensdurststillende Zeitung.

Marie Lukáčovás Videoarbeit “Chosen” setzt diverse Personen an einen runden Tisch, eine selbstgewählte Familie. Sie bedient Klischees und lässt sie aufeinanderprallen. Ein Esoteriker, der nur Lederhalsketten trägt und sich in Tücher einwickelt gegenüber einer Drag-Queen, die im privaten Raum überdimensionale glitzernde Fake-Lashes und Perücke trägt. Ein vermeintlicher, mindestens optischer Clash, aber offenherzige ehrliche Gespräche über Selbstgeißelung anhand von Diäten, quälende Normierungen und den schwangeren Vater, das große Vorbild. Der Tisch ist gedeckt mit ganzen Möhren, angerichtet mit Zitrone, ungeschälten Maiskolben und Wein, dankbar gebetet wird auch. An diesem Tisch muss sich keine*r mit außergewöhnlichem Essen über mangelnde Kommunikation und Toleranz hinwegtrösten.

Landscape of Emotions, Mothers Artlovers, installation, Beyond Nuclear Family, alpha nova & galerie futura, 2022.
Landscape of Emotions, Mothers Artlovers, installation, Beyond Nuclear Family, alpha nova & galerie futura, 2022. Photo: Carolin Seeliger.

Das Kollektiv Mothers Artlovers ist mit zwei Arbeiten vertreten. Sie bringen ihren feministischen Ansatz auf verspielte Art und Weise zum Ausdruck und beleuchten verschiedenste Seiten der Mutterschaft. Ihre Rauminstallation “Landscape of Emotions” ist Bällebad, Sitzsack und mit Luftballons schießende Frauenarmee. Besucher*innen verspüren möglicherweise den Reiz, sich auf den weichen Haufen zu werfen, aber würden sie wirklich weich fallen? Die Arbeit changiert zwischen Spiel und Realitätsklatsche, knallend platzenden Luftballons und Wunschgedanken.

No Title (2022), Mothers Artlovers, online performance, alpha nova & galerie futura, 2022. Photo: Carolin Heit.

Mit ihrer Online-Performance halten sie Besucher*innen wortwörtlich den Spiegel vor. In den einzelnen Kacheln eines Zoom-Meetings ist jeweils eine Frau mit Spiegel zu sehen. Mal beißt eine auf den Spiegel, während eine andere ihn über oder unter ihr Gesicht hält. Gemeinsam schaffen sie Spiegelachsen an jeglichen Stellen. Ihre Kinder turnen währenddessen um und auf ihnen herum, äußern Bedürfnisse, wollen mitmachen. Der Spiegel ist in diesem Projekt in gewisser Weise das am wenigsten reflektierende Element, vielmehr bringt das große Mutter-Kind-Gewusel die Lebensrealität vieler Frauen zum Ausdruck. Die Mutter als Spiegel des Kindes, das Kind der umherwandernde Spiegel der Mutter. Mit dieser Arbeit schafft das Kollektiv ein Bewusstsein für die Kraftanstrengungen des alleinigen, mütterlichen Spiegelfunktiontragens. Allgemein halten Mothers Artlovers in ihrer Kunst eine bunte Unordnung. Sie kämpfen auf Spielwiesen für Gleichberechtigung, leichtfüßig, aber nachdrücklich.

Am Tischende, auf dem Platz des Familienoberhauptes, steht ein Kinderstuhl. Die Kuratorinnen Sylvia Sadzinski, Veronika Čechová, Barbora Ciprová, Katharina Koch und Tereza Jindrová haben mit derartigen Kniffen die alteingesessene Ordnung geschickt kontrastiert, jegliche familiäre Hierarchien aus diesem Raum ausgesperrt.

Suspended Time, on Caring (2020), MATERNAL FANTASIES, experimental short film, lpha nova & galerie futura, 2022.
Suspended Time, on Caring (2020), MATERNAL FANTASIES, experimental short film, lpha nova & galerie futura, 2022.

Auf dem Kinderstuhl sitzend tauchen Besucher*innen in die performative Welt des Kollektivs Maternal Fantasies ein. Die derzeit acht Mitglieder der Gruppe kreisen mit ihrer künstlerischen Praxis das Thema der Mutterschaft ein. Im experimentellen Kurzfilm “Suspended Time, on Caring” stehen Frauen und Kinder in pastellfarbener Kleidung in von Beton dominierter Umgebung. Sie tragen Hauben, die an Mägde erinnern, haben ihre Köpfe komplett in einem grauen Ei versteckt oder stecken ihn in kegelartige Gebilde, als gingen sie einem verborgenen Bedürfnis nach, den Kopf in den Sand zu stecken.

Stimmen zählen Begriffe mit B auf: “Birth, Bath, Body, Balance, Balast, Beauty”. Die Szenerie wechselt, jetzt versucht sich die Gruppe auf angeschüttetem Sand auf den Beinen zu halten. “It’s not possible to multitask” oder “i feel like beeing squeezed” sind Sätze, die sich einbrennen. So pur und doch prägnant, so pregnant and tired. Drei Frauen sitzen auf Kochtöpfen, Kinder bringen weitere Kochutensilien, setzen ihnen Siebe auf den Kopf oder stecken ihnen Schneebesen in den Mund. Die Situation erinnert an das Kinderspiel Topfschlagen und verweist nebenbei an die immer noch vorherrschende haushaltende Rolle der Frau. Die Ästhetik des Filmes hat eine beruhigende Wirkung, alles sieht angenehm aus, aber es schwingt eine Müdigkeit mit, eine Müdigkeit ausgepresster Mütter.

1 Meter Fünfzig (sozial distanziertes Portrait mit Mutter) (2020), Sophia Süßmilch, c-print, Beyond Nuclear Family, alpha nova & galerie futura, 2022.
1 Meter Fünfzig (sozial distanziertes Portrait mit Mutter) (2020), Sophia Süßmilch, c-print, Beyond Nuclear Family, alpha nova & galerie futura, 2022. Photo: Carolin Seeliger.

Es gibt wohl kaum eine Künstlerin, die das Motto “Titten auf den Tisch” wörtlicher zu nehmen scheint, als Sophia Süßmilch. Ihre ehrliche, nichts vermeidende Kunst darf, wenn es um Selbstermächtigung und Scheißegal-Attitüde geht, nicht fehlen. Nackig steht sie mit ihrer Mutter im Wald, verbunden und gleichzeitig distanziert durch einen Stock, den sie sich unter ihre Brüste geklemmt haben. Die Fotografie mit dem Titel “1 Meter Fünfzig (sozial distanziertes Portrait mit Mutter)” ist auf seltsame Weise intim. Mutter und Tochter scheinen sich nah zu stehen aber genau das auch eben nicht. Die Gesichter versteinert wie das Geröll vor ihnen auf dem Boden. Absolut entblößt und verletzlich, aber auf Abstand. Wie viel Abstand ist gesund? Was hat der pandemiebedingte Sicherheitsabstand mit den zwischenmenschlichen Verhältnissen gemacht? Süßmilchs amüsierende Konfrontationskunst stimmt nachdenklich. Lachen ist erlaubt, aber es kann auch mal im Halse stecken bleiben. 

Von manchen Stühlen ist es schwer wieder aufzustehen, so sehr drücken und fesseln einen die zu sehenden Arbeiten auf die Sitzflächen. Fassungslos gebannt sitzen Besucher*innen vor der Arbeit von Annette Hollywood. Die Künstlerin hat intensive Recherchearbeit geleistet, sich durch deutsche Archive gewühlt und Dokumente aus dem Zeitraum 1928 bis 1936 zusammengetragen, die in ihren Videoarbeiten “[anderkawer] 1928” und “[anderkawer] 1936” inszeniert vorgelegt und -gelesen werden. Eine Angestellte des Homosexuellen Dezernats sagt am Telefon: “Ich kann keine lesbischen Frauen mehr finden”. Es wird von Unzucht gesprochen, von der Gefahr gefährliche Neigungen weiterzugeben und eine Tochter fragt ihre Mutter, wie Schwulsein gemacht wird. Die brutal sachlich dokumentierte, hier vorgetragene systematische Verfolgung von sogenannten “Lesbierinnen” in der aufkommenden und wachsenden NS-Diktatur lässt den Atem stocken.

[anderkawer] 1928 und 1936 (2022), annette hollywood, video, Beyond Nuclear Family, alpha nova & galerie futura, 2022.
[anderkawer] 1928 und 1936 (2022), annette hollywood, video, Beyond Nuclear Family, alpha nova & galerie futura, 2022. Photo: Carolin Heit.

Zu guter Letzt wird vor der Arbeit “Polyphonic Womb” von Marie Tučková Platz genommen. Etwas erschöpft von den vorherigen Sitzplätzen, von den facettenreichen Eindrücken, von der Wut, der Enttäuschung, der Ungerechtigkeit und dem Spaß blinzeln Besucher*innen in die ebenfalls erschöpften Augen einer Tänzerin im Video. Ihr Gesicht ist von rötlich geschminkten Partien bedeckt, ihr scheint etwas Blut aus der Nase zu laufen, sie sieht traurig und verletzt aus.

Ihre Bewegungen sind energetisch, aber nicht ruckartig. Ihr Körper durchfließt eine Verrenkung nach der anderen. Eine zarte Stimme singt: “The child did not want to come out; did not want that milk. What if you come back inside”. Ein Schauer läuft über den Rücken. Die Verzweiflung, die Hilflosigkeit in der Stimme rührt. Die Eindringlichkeit mit der die Option, das Kind zu essen, es in den Körper zurückzuschlucken und dort für es zu sorgen, besungen und durchtanzt wird ist erschütternd schön.

Polyphonic Womb (2022), Marie Tučková, video, Beyond Nuclear Family, alpha nova & galerie futura, 2022.
Polyphonic Womb (2022), Marie Tučková, video, Beyond Nuclear Family, alpha nova & galerie futura, 2022. Photo: Carolin Heit.

An diesem Tisch wird das Konstrukt Familie gesprengt, hinterfragt und gefeiert, jedoch mit flexibler Sitzordnung. “Beyond Nuclear Family: Around The Family Table” bietet Platz für anders gedachte Familienkonzepte und kredenzt ein künstlerisches Menü mit feministischer Würze. Deutlich gemacht wird, dass das vorherrschende moderne westliche Konzept lange nicht alle sättigt, dass es nicht schmackhaft gemacht, sondern frei nach Schnauze umgesetzt werden sollte. Allgemeingültige Glücksrezepte gibt es nicht. Die Show streut die Prise Toleranz und die Dosis Weitblick über die Familientafel, bringt Beweglichkeit und den Blick über den Tellerrand ins Spiel. Ein schonungslos ehrlicher Genuss.

Die Berliner Show bei alpha nova & galerie futura ist die erste Show einer von der Prager Jindřich Chalupecký Society iniitierten dreiteiligen Ausstellungsreihe. Fortsetzung und Erweiterung findet “Beyond Nuclear Family” bei Display in Prag und im EFA Project Space in New York.

WANN: Die Ausstellung läuft noch bis Freitag, den 29. April.
WO: alpha nova & galerie futura, Am Flutgraben 3, 12435 Berlin. Am Donnerstag, den 28. April, findet eine Abschlussveranstaltung im Tschechischen Zentrum, Wilhelmstraße 44, 10117 Berlin, statt.

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