Wer kann das verstehen?
Schweizer Kunstschaffende im Helmhaus Zürich

7. November 2023 • Text von

“Wenn Sie mir das nicht erklärt hätten, hätte ich das nie verstanden.“ – Ein Satz, den Kunstvermittler*innen immer wieder hören. Was hat es eigentlich auf sich mit dem Verstehen von Kunst? Warum fällt es oft schwer, künstlerische Positionen zu begreifen? Das Helmhaus Zürich nimmt sich in der Ausstellung “Verstehen. Das Problem des Anderen“ diesen Fragen an. Gezeigt werden Arbeiten von Schweizer Gegenwartskünstler*innen, die unterschiedliche Modi des Verstehens thematisieren. Momente des Nichtverstehens, des Verstehenwollens und des Verstehensverweigerns stehen nebeneinander.

Alberto Villafuerte, Post Intellectual, 2023, Detailansicht (Foto Zoe Tempest)
Alberto Villafuerte, Post-Intellectual, 2023, Detailansicht. Foto: Zoe Tempest. Courtesy by the artist and Helmhaus.

In der Schweiz werden vier offizielle Landessprachen gesprochen. Die gesetzlich verankerte Mehrsprachigkeit umfasst Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. Fast zwei Drittel der Bevölkerung spricht einmal pro Woche mehr als eine dieser Sprachen, heißt es auf der Website der Schweizer Eidgenossenschaft. Nicht nur die Produkte im Supermarkt sind mehrsprachig beschriftet. Jede Sprachregion hat ihre eigenen Zeitungen und Medienformate. Das Verstehen Anderer über Sprachgrenzen hinweg ist Alltagsgegenstand.

Das Helmhaus Zürich zeigt eine Ausstellung, die Phänomene des Verstehens thematisiert. Die 16 ausgestellten Kunstschaffenden setzen sie sich mit unterschiedlichen künstlerischen Zugängen an das Verstehen auseinander und decken Potentiale des Nichtverstehens auf.

Ausstellungsansicht «verstehen» Das Problem des Anderen mit Werken von Lisa Schiess und Michelle Maddox (Foto Zoe Tempest)
Ausstellungsansicht «verstehen» Das Problem des Anderen mit Werken von Lisa Schiess und Michelle Maddox. Foto: Zoe Tempest. Courtesy by the artist and Helmhaus.

Lisa Schiess setzt sich in ihrer Installation “Odradek im Spiegelland“ mit Sprache als Mittel und Hindernis von Verständigung auseinander. Ein handbeschriebener Besen, Spiegel, Banner und leere Kartonschachteln stehen im Ausstellungsraum. Die auf die Objekte eng gesetzten schwarzen Wortzeilen erscheinen unleserlich. Sie verweigern sich dem unvermittelten Verstehen. Es handelt sich um Spiegelschrift in verschiedenen Sprachen.

Bei der Entzifferung von Schiess‘ vermeintlich unlesbarer Schrift helfen Handspiegel, die sie den Rezipierenden ihrer Arbeiten bereitlegt. Auf diese Weise werden Klassiker der Literaturgeschichte wie Johann Wolfgang von Goethes „Zauberlehrling“ oder Franz Kafkas „Die Sorge des Hausvaters“ auf den Objekten lesbar. Die Texte setzen sich inhaltlich mit Momenten missglückter Verständigung auseinander.

Lisa Schiess, Odradek im Spiegelland, 2023, Detailansicht (Foto Zoe Tempest)
Lisa Schiess, Odradek im Spiegelland, 2023, Detailansicht. Foto: Zoe Tempest. Courtesy by the artist and Helmhaus.

Kafkas Erzählung spinnt sich um das der Installation titelgebende Wesen Odradek. Es ist ein rätselhafter und vieldeutiger Charakter zwischen Ding und Figur, der sich nach ganz eigenen Regeln im Haus des Hausvaters bewegt. Odradek entzieht sich einer eindeutigen Beschreibung. Gerade in seiner Sinnlosigkeit, seiner Verweigerung von Verständigung liegt seine Kraft. Schiess‘ Arbeit vermittelt Kippmomente zwischen Verstehen und Nichtverstehen, die eine vergleichbare Dynamik entfalten.

Susanne Kellers Arbeiten “Volkstanz“ und “Emotionale Landschaften“ entstanden aus dem Bedürfnis des Verstehenwollens Anderer. Von 2017 bis 2023 führt die Schweizer Künstlerin 387 Interviews, in denen sie die Befragten bittet, frei darüber zu sprechen, was ihnen wirklich wichtig ist. Am Ende jedes Gesprächs steht ein Kernsatz, der das Verhandelte auf einen Nenner bringt. Diese Sätze schreibt Keller an die Ausstellungswand im Helmhaus.

Ausstellungsansicht «verstehen» Das Problem des Anderen mit Werken von Susanne Keller (Foto Zoe Tempest)
Ausstellungsansicht «verstehen» Das Problem des Anderen mit Werken von Susanne Keller. Foto: Zoe Tempest. Courtesy by the artist and Helmhaus.

Zudem sind sie als Teil ihrer Installation “Volkstanz“ zu hören. Wie in einem überlebensgroßen Altar fügen sich hier kleinteilig abstrakte Formen aus Papier, Muscheln, Perlen, bunten Schnüren, glitzerndem Lametta und künstlichem Efeu aneinander. Die Formensprache der plastischen Arbeit entspringt intuitiven Zeichnungen, die Keller jeweils kurz nach den Interviews anfertigte. Sie sind ihr ein Mittel, um das eigene Verstehen zu verstehen, sich dem eigenen Verstehensprozess anzunähern. Auditiv unterlegt wird das visuelle Erfahren der Installation von den übereinander gelagerten Interviewsätzen.

Der Detailreichtum von Kellers Arbeit lässt sich nicht auf einen Blick erfassen. Auch der Entstehungsprozess dieser vielschichten Arbeit ist nicht intuitiv rekonstruierbar. Keller vermittelt die Inhalte und eigenen Reaktionen ihrer Interviews mehrmedial. Ihre Arbeit zu verstehen erfordert Zeit. Das Verstehen entfaltet sich als Prozess, der für jede*n Rezipierenden individuell verläuft.

Damon Mark, BAKCHAT, 2023 (Foto Zoe Tempest)
Damon Mark, BAKCHAT, 2023. Foto: Zoe Tempest. Courtesy by the artist and Helmhaus.

Dass Verstehenwollen nicht immer eine Annäherung an den Anderen bedeutet, sondern auch ausgrenzen kann, zeigt die Arbeit Damon Marks. Mit “Back<Chat“ stellt er Mikroaggressionen aus. Darunter versteht er verbale Äußerungen von Personen der Mehrheitsgesellschaft, gerichtet an Personen gesellschaftlicher Minderheiten. Eine Frage wie “Woher kommst du eigentlich?“ an eine Person of Color in der Schweiz kann dafür ein Beispiel sein. Die vermeintlich unschuldige Bemerkung kann ausgrenzend wirken. Mark regt das Reflektieren darüber an. Zugleich führt er mögliche Interventionen vor, Vorschläge für pointierte Reaktionen.

Diese Ausstellung über das Verstehen weist nicht nur Verständigung als künstlerisches Problem aus, sie macht das Verstehen des Verstehenwollens zum Thema. Damit regt sie das Reflektieren über die Lesbarkeit von Kunst an und entfaltet gesellschaftliche Wirkkraft, indem sie Möglichkeiten tatsächlich verständiger Verständigung aufzeigt.

WANN: Die Ausstellung “Verstehen. Das Problem des Anderen“ läuft bis Sonntag, den 7. Januar 2024.
WO: Helmhaus, Limmatquai 31, 8001 Zürich.

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