Säulen stürzen
Ceylan Öztrük im Cabaret Voltaire

14. Dezember 2023 • Text von

Mit „Pink Tabula Rasa“ zeigt der Zürcher Ausstellungsraum Cabaret Voltaire eine Installation von Ceylan Öztrük. Unwirkliche Architekturelemente bevölkern den Raum. Flugblätter schweben die Wände entlang. „Tabula Rasa“ meint im herkömmlichen Sprachgebrauch „leer wie ein unbeschriebenes Blatt“. Öztrük schafft unvorhergesehene Formen aus Papier. Auf diese Weise hinterfragt sie unser vermeintlich abgeschlossenes Warnehmungswissen.

01Cabaret Voltaire Ausstellungsansicht Ceylan Oztruk 2023 Photo@Cedric Mussano high res
Exhibition view Ceylan Öztrük «Pink Tabula Rasa», Cabaret Voltaire 2023. Photo: Cedric Mussano.

Den Besucher*innen des Gewölbekellers im Zürcher Cabaret Voltaire eröffnet sich eine surreale Szenerie. Der das Gewölbe stützende Pfeiler trägt nicht nur die Decke, sondern auch eine gemusterte Säule. Sie ist über zwei Metallspangen mit dem Pfeiler verklammert. So hängt sie wenige Zentimeter über den Boden mittig im Raum. Es handelt sich um eine Rundsäule ohne Kapitell. Ihre braunrote Oberfläche ist durchzogen von hellrosa Adern. Die Maserung lässt an Marmor denken.

Ceylan Öztrüks Arbeit „Pink Tabula Rasa“ ist als architektonische Intervention zu beschreiben. Die Künstlerin bespielt den Ausstellungsraum mit Architekturelementen, die sie durch Form, Farbe, Materialität und räumliche Verortung verfremdet.

03Cabaret Voltaire Ausstellungsansicht Ceylan Oztruk 2023 Photo@Cedric Mussano high res
Exhibition view Ceylan Öztrük «Pink Tabula Rasa», Cabaret Voltaire 2023; Ceylan Öztrük, Phantasm Manifesto: Column I, II and III (Detail), 2023. Photo: Cedric Mussano.

Neben der Säule im Schwebezustand liegen zwei weitere marmorierte Rundsäulen auf dem Boden. Daneben steht eine aus fünf Elementen zusammengesetzte Stehle. Wie Überreste einer antiken Ruine muten die aufeinandergestapelten Quader an. Der vermeintlich steinerne Stapel wirkt instabil.

Keiner der von Öztrük gestalteten Säulen kommt einer tragenden Funktion zu. Ihre Enden wirken wie abgeschnitten, die Kanten sind an mehrere Stellen eingedrückt. Sie weisen unregelmäßige Einbuchtungen auf. Es wirkt, als hätte ein Gigant die Architekturelemente aus ihrem ursprünglichen Baukontext gerissen und dabei gewaltvoll zerdrückt.

10Cabaret Voltaire Ausstellungsansicht Ceylan Oztruk 2023 Photo@Cedric Mussano high res
Exhibition view Ceylan Öztrük «Pink Tabula Rasa», Cabaret Voltaire 2023; Ceylan Öztrük, Phantasm Manifesto: 5 Pieces, 2023; Ceylan Öztrük, Choreographed Manifestos with manifestos by Bassem Saad, Ceylan Öztrük, Guerreiro do Divino Amor, Giorgio Zeno Graf, Industria Indipendente, Ivona Brđanović, Maya Olah, Mathis Pfäffli, Michèle Graf & Selina Grüter, MigrArt/DACZ (Deniz Damla Uz & Niştiman Erdede), Ramaya Tegegne, RM, Sandra Mujinga, Shirana Shahbazi and Ursula Biemann, 2023. Photo: Cedric Mussano.

Diese eigentümliche Wirkung ist der Materialität und Oberfläche der Arbeiten geschuldet. Es handelt sich keineswegs um schwere Steinelemente, sondern um großformatige Skulpturen aus Papier. Das Material ist leicht formbar und wurde mit einem digital erzeugten Muster bedruckt. Die Fragilität der Säulen steht im Gegensatz zu den üblicherweise mit tragenden Architekturelementen verbundenen Werten wie Standfestigkeit und Dauer.

Papier ist nicht nur im Raum, sondern auch an den Wänden des Ausstellungsraums im Gewölbekeller zu sehen. Wie im Flug begriffen, schweben Papierstapel die Wände entlang. Sie nehmen Wellenformen an oder recken den Betrachter*innen ihre Ecken entgegen. Es handelt sich um Manifeste, die Öztrük auf handgebogenen Stahlblechen präsentiert.

Öztrüks Arbeit steht im Kontext der sowohl im Cabaret Voltaire als auch im Istituto Svizzero in Rom gezeigten Ausstellung „Poetry for Revolutions. A Group Show with Manifestos and Proposals”. Fünfzehn Kunstschaffende haben dafür je ein Manifest beigetragen. In Wort und Bild werden globale Krisen thematisiert und eine bessere Zukunft imaginiert.

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Exhibition view Ceylan Öztrük «Pink Tabula Rasa», Cabaret Voltaire 2023; Ceylan Öztrük, Choreographed Manifestos with manifestos by Guerreiro do Divino Amor, Ivona Brđanović and Ceylan Öztrük, 2023. Photo: Cedric Mussano.

Das künstlerische Manifest ist spätestens seit den Avantgarden, unter anderem seit Dada ein eigenes Genre. Entstanden aus einer Empörung über aktuelle Zustände heraus, verbindet es Kunstschaffen mit Politik. Als Teil von Öztruks Arbeit können die künstlerischen Manifeste angefasst, in den öffentlichen Raum getragen und mit nach Hause genommen werden. Auf diese Weise verlassen sie die der Kunst zugeordnete Sphäre des Cabaret Voltaire. Sind alle Blätter hinausgetragen, werden nur Öztrüks Stahlträger zurückbleiben, die die Wand visuell rhythmisieren.

Öztrük schreibt in ihrer Arbeit kulturelle Codes um: Marmor zerknittert, Säulen müssen nichts tragen und Kunst darf den Ausstellungsraum verlassen. Die Ausstellung „Pink Tabula Rasa“ ist eine Einladung dazu, vermeintliches Wissen zu hinterfragen und andere Formen der Zirkulation von Informationen zu schaffen.

WANN: Die Ausstellung „Pink Tabula Rasa“ ist zu sehen bis Sonntag, den 31. März 2024.
WO: Cabaret Voltaire, Spiegelgasse 1, 8001 Zürich

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