Stumme Zeugen Matthew Angelo Harrison bei Eva Presenhuber
25. April 2024 • Text von Anja Grossmann
Mit “American Ghost” präsentiert die Galerie Eva Presenhuber eine Ausstellung von Matthew Angelo Harrison in Zürich. Der amerikanische Künstler zeigt von Kunstharz umschlossene afrikanische Skulpturen. Die traditionellen Artefakte wirken in den transparenten Quadern wie konserviert in Wasser. Es scheint, als rängen sie dabei nach Luft, wie die Menschen, die sie schufen und die Kultur, der sie entstammen. Harrisons Arbeit lädt zur Reflexion über Kolonialismus und über afrikanisch-amerikanische Identität ein.
Zwölf teiltransparente Blöcke stehen auf linearen Stahlgerüsten. Sie zeigen in Polyurethan eingelassene Figuren aus Holz, die im sie umgebenden Material zu schweben scheinen. Die minimalistische Ästhetik der Stahlsockel trifft auf das Naturmaterial, die händische Herstellungsweise der figurativen Formen auf die computergestützte Produktion ihrer Fassung. Matthew Angelo Harrison konserviert afrikanische Skulpturen und Masken, einst heilige Sinnbilder, in kubischen Formen. Aktuell stellt er eine Auswahl dieser Arbeiten in der Galerie Eva Presenhuber in Zürich aus.
Wer die ursprünglich afrikanischen Holzobjekte gemacht hat, ist nicht bekannt. Harrison fixiert ihren Zustand in Kunstharz und durchbricht damit den Alterungsprozess des natürlichen Materials. Zugleich eignet er sich die skulpturalen Objekte auf diese Weise künstlerisch an. Die Textur ihrer Oberflächen und die Einzelheiten ihrer fein ausgearbeiteten Formen sind durch seine Bearbeitung nicht mehr eindeutig zu erkennen. Denn das sie umschließende Material spiegelt, ist milchig oder schließt Luftblasen ein, die sich wie silberne Tropfen um die skulpturalen Objekte legen.
“Sister Covered in Tears”, zu Deutsch “Schwester bedeckt von Tränen” ist eine figurative weibliche Skulptur umgeben von unzähligen feinen Blasen. Wie eine Legierung aus silbernen Tropfen umschließen sie den skulpturalen Körper. Ihr Haupt erscheint wie zur Krone veredelt. Ihr Torso wie von einem feinen Kettenhemd geschützt. Einerseits konserviert Harrison die Holzskulpturen durch sein künstlerisches Verfahren, andererseits veredelt er sie. Dass ihre eigentliche Form dabei in Teilen verdeckt wird, ist Teil des Konzepts.
Harrison erstand die gezeigten Skulpturen in Galerien oder Privatsammlungen. Er bearbeitete sie und machte sie in einem kunstspezifischen Kontext sichtbar. Mit seiner Arbeit thematisiert er diese Form der Sichtbarkeit. Harrison schafft ein Archiv, das die Mechanismen der Archivierung und Musealisierung ursprünglich afrikanischer Objekte reflektiert, auf die darin eingeschlossenen Formen der Gewalt, Enteignung und die Zersplitterung kulturellen Erbes.
Die Arbeit “Silenced”, auf Deutsch “Zum Schweigen gebracht” visualisiert die Gewalt der Unsichtbarkeit. Sie zeigt eine figurative Skulptur, die sich die Hände vor den Mund hält. Ihre Form ist kaum zu erkennen, denn Harrison wählt ein dunkles Kunstharz als Ummantelung, das fast alles Licht schluckt. Ihre Form ist visuell zum Schweigen gebracht. Den Titel, den Harrison für seine Arbeiten wählt – andere Beispiele sind “Last Breath”, “Letzer Atemzug” oder “Stoic on a Narrow Path”, “Stoisch auf einem schmalen Pfad” – bringt das Leid der gewaltsamen Ausbeutung der afrikanischen Kultur zum Ausdruck und spricht von Kämpfen, die bis heute andauern.
Diese Kämpfe liest Harrison auch als Teil der afrikanisch-amerikanischen Herkunft und Kultur. So wählt er nicht allein traditionell afrikanische, sondern auch dezidiert amerikanische Objekte für seine Arbeiten. In der aktuellen Ausstellung werden auch in Kunstharz eingelassene Gewerkschaftsflugblätter und ein roter Arbeiterhelm gezeigt. Es handelt sich um Artefakte des Arbeiterkampfs in Detroit. Harrison präsentiert sie auf gleiche Weise wie die afrikanischen Artefakte und schreibt ihnen damit eine vergleichbare Bedeutung in der identitätspolitischen Reflexion afrikanisch-amerikanischen Identität zu.
Die Ausstellung “American Ghost” reflektiert auf den “amerikansichen Geist”, auf postkoloniale und identitätspolitische Fragen. Die expressive Ausdruckskraft der in Harrisons Arbeiten verwendeten Skulpturen und Masken steigert er weiter und schafft eine Neukonturierung ihrer Form, die hoffentlich mit einer Neukonturierung der Lesart vergleichbarer Objekte und der damit verknüpften Wegen und Fragen einhergeht.
WANN: Die Ausstellung “American Ghost” ist noch zu sehen bis Samstag, den 25. Mai 2024.
WO: Galerie Eva Presenhuber, Waldmannstrasse 6, 8001, Zürich.