Widerstand, nicht nur am Wochenende
Politische Kunst in der Shedhalle Zürich

10. Januar 2023 • Text von

“Es ist Zeit, die Regeln zu brechen”, verkündet Mikołaj Sobczak. Gemeinsam mit Selma Selman und Nicholas Grafia inszeniert der Künstler in der Shedhalle Zürich widerständige Arbeiten als “Weak.End.Opera”.

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Shedhalle, Protozone9 – WEAK.END.OPERA, 2022, Selma Selman, Mikołaj Sobczak, Nicholas Grafia. Foto: Carla Schleiffer.

In der neunten Auflage des Ausstellungsformats „Protozone“ bespielen Selma Selman, Nicholas Grafia und Mikołaj Sobczak die Shedhalle in Zürich. Zwei Wochen haben die drei Künstler*innen vor Ort verbracht. Dabei ist eine Ausstellung entstanden, die ihre Arbeiten in einer medienübergreifenden Rauminstallation verbindet. Zum Eröffnungswochenende zeigten sie zudem eine Performance, die für sie relevante Themen des politischen Widerstands mit Mitteln des experimentellen Theaters zum Ausdruck brachte.

Wie in einem Terrarium werden Besuchende beim Betreten der Ausstellung selbst zu Ausstellungsobjekten. Der erste Raum steht voller Zimmerpflanzen. Er ist durch Glasscheiben abgetrennt. Hier drin sind die Ausstellungsbesucher*innen nicht nur den Blicken derer ausgesetzt, die bereits weiter in die Shedhalle vorgedrungen sind. Da sind auch Wächter an den Wänden, „Sleeping Guards“, die jeden Moment zu erwachen scheinen. Die kreisförmigen Papierarbeiten von Selma Selman zeigen weibliche Körper: weit ausgreifende Arme, blutende Hüften, Gesichter mit leeren Augen. Nah herantreten an die feinen Zeichnungen kann man jedoch nicht, denn auch sie werden bewacht von mannshohen Pflanzen in schwarzen Töpfen.

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Shedhalle, Protozone9 – WEAK.END.OPERA, 2022, Selma Selman, Mikołaj Sobczak, Nicholas Grafia. Foto: Carla Schleiffer.

Anders hingegen verhält es sich bei Selmans Arbeit „Superpositional Intersectionalism“, ­­eine Installation aus „Öl auf Mercedes“. Der schwarz-glänzende Korpus eines Autos ist auseinandergenommen. Seine Teile wurden von der Künstlerin als Wandarbeit neu arrangiert und bemalt. Die Metallteile zieren nun weibliche Formen in Fleischfarben, runde Brüste, gespreizte Beine. Anorganisches und organische weiche Form treffen hart aufeinander. So lassen sie unter anderem an den Pin-up-Kalender eines Fernfahrers denken oder an Werbebilder, welche die Verführungskraft schneller Autos mit der schöner Frauen gleichsetzen.

Der Titel der Arbeit beschreibt sich überlagernde Formen der Abwertung. Einerseits gemeint ist die Diskriminierung des Weiblichen durch die omnipräsente Repräsentation als sexuell verfügbare Körper. Andererseits verweist die Arbeit auch auf von der modernen Wegwerf- und Konsumgesellschaft abgewertete Praktiken des Recyclings. Selman arbeitet in ihrem Werken wiederkehrend mit gebrauchtem Metall und wirft so Fragen nach der Nachhaltigkeit künstlerischer Praktiken und den Mechanismen ihrer Wertzuschreibung auf. Ihre Arbeit lässt sich folglich als ökofeministische Position beschreiben. Ihren Widerstand gegen patriarchale Machtstrukturen denkt die Künstlerin mit der Kritik an der wirtschaftlich motivierten Ausbeutung natürlicher Ressourcen zusammen.

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Shedhalle, Protozone9 – WEAK.END.OPERA, 2022, Selma Selman, Mikołaj Sobczak, Nicholas Grafia. Foto: Carla Schleiffer.

Mit genderspezifische Identitätszuschreibungen und Rollenerwartungen setzen sich auch die Arbeiten von Mikołaj Sobczak auseinander. „Witches with Brocken Noses“ ist eine Serie von sieben großformatigen Holztafeln. Sobczak nutzt beide Seiten als Bildflächen: Die Vorderseiten zeigen Fotocollagen einer queer-phobischen Attacke gegen den Künstler in Polen, bei der ihm die Nase gebrochen wurde. Die Hinterseiten präsentieren mittelalterliche Holzschnittdarstellungen von Hexenverfolgungen. Im räumlichen Erlaufen, Umrunden und Erschließen der Arbeiten verschmelzen beide Perspektiven zu einer gemeinsamen Darstellungswelt und eröffnen einen zeitübergreifenden Erzählraum, der genderspezifische Verfolgung offenlegt.

Das Verbindungsglied der zwei Erzählebenen das polnische Wort „ciota“, das sowohl „Hexe“ als auch „Schwuchtel“ meint, wie aus dem Ausstellungstext der Kuratorinnen Phila Bergmann und Thea Reifler hervorgeht. Es handelt sich also um einen zur Diffamierung von Gendergruppen verwendeten Begriff, der abwertet und ausgrenzt. Sobczak bezeichnet sich selbst als „ciota“. So besetzt er den Begriff im Kontext seiner Arbeit neu und legt dessen Widerstandskraft frei.

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Shedhalle, Protozone9 – WEAK.END.OPERA, 2022, Selma Selman, Mikołaj Sobczak, Nicholas Grafia. Foto: Carla Schleiffer.

Die Videoarbeit „The Accursed Ones“ von Mikołaj Sobczak und Nicholas Grafia zeigt die Künstler in den Rollen von Hexe und Vampir. In einem unbestimmten, an eine Bühne gemahnenden Raum, vollziehen sie rätselhafte Rituale. Dem Ausstellungstext zufolge sind sie angelehnt an Praktiken wie Exorzismen, vermeintlichen Reinigungs- und Heilungsrituale, denen historisch und gesellschaftlich ausgegrenzte Gruppen in vielen Kulturen gegen ihren Willen ausgesetzt werden. Hier allerdings erscheinen diese „Verfluchten“ nicht als Opfer solch absurder Praktiken. Stattdessen führen sie sie wie im Spiel als konfrontative Akteure vor.

„So now that we all know the rules it’s time to break the rules!”, klärt Sobzak die Zuschauer*innen auf. Das Spiel der geheimnisvollen Handlungen wechselt von seiner Ernsthaftigkeit zu einer fast schon humoristischen Ausdrucksweise. Sobczak und Grafia nutzen für ihre gemeinsame Arbeit Mittel des absurden Theaters wie irreale Szenerien, scheinbar beliebig verknüpfte Dialogreihen und ungewöhnliche Bewegungsabläufe. Auf diese Weise stellen sie die körperliche Wirkkraft der dargestellten Marginalisierten ins Zentrum und führen ihre Resistenz vor Augen.

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Shedhalle, Protozone9 – WEAK.END.OPERA, 2022, Selma Selman, Mikołaj Sobczak, Nicholas Grafia. Foto: Carla Schleiffer.

Während der Performance „Weak.End.Opera“ am Eröffnungswochenende der Ausstellung zeigte sich, wie die Werkaspekte aller drei Künstler*innen ineinandergreifen. Als Bühnenbild dienten fünf von Nicholas Grafia gemalte Acrylbilder in roter Farbe, die auch nach der Aufführung im Ausstellungsraum verblieben sind. Darauf zu sehen sind abstrakte Formen, muskulöse Männerkörper und aufgeklebte Kleidungsstücke. In ihrer Anordnung erzeugen die hohen Leinwände einen gestaffelten Bildraum, in dessen Innersten ein schwarzer Kuhkopf wohnt. Grafia setzt sich diesen während der Performance auf und bewegt sich durch die Wände wie durch ein Labyrinth. Dabei weckt er Assoziationen zur mythologischen Figur des Minotaurus. Allerdings erscheint er viel eher als ein Sinnbild gegenwärtiger Orientierungslosigkeit, nicht als menschenfressendes Monster.

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Shedhalle, Protozone9 – WEAK.END.OPERA, 2022, Selma Selman, Mikołaj Sobczak, Nicholas Grafia. Foto: Carla Schleiffer.

Den Kern der Performance von Grafia, Sobczak und Selman bildet das gesprochene Wort. Nacheinander erzählen, rezitieren und schreien sie individuelle und universelle Geschichten heraus. Dabei setzen sie sich mit ihren Körpern, Geschlechterkonzepten, postkolonialen und diasporischen Motiven auseinander. Ihre Ohnmacht und Wut angesichts der politischen Zustände der Welt staut sich über die Performance immer weiter an und richtet sich am Ende gegen das Publikum selbst. Selman schreit wiederholt „You are not welcome!“ in die Gesichter der Zuschauer*innen. Die Aggression in ihren Worten rüttelt auf, einige Besucher*innen verlassen den Raum. Die Vorstellung ist zu Ende. Doch die Kraft und Widerstandskraft der drei Künstler*innen bleibt spürbar. Sie hallen in der Ausstellung nach, auch nachdem die Performance schon lange vorbei ist.

WANN: Die Ausstellung „Weak.End.Opera“ läuft bis Sonntag, den 15. Januar.
WO: Shedhalle, Seestrasse 395, 8038 Zürich.

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