Schenkel und Skurriles
Carol Ramas Graphik im Gutshaus Steglitz

23. Februar 2022 • Text von

Die Ausstellung “Carol Rama” im Gutshaus Steglitz zeigt das graphische Spätwerk Carol Ramas. In Radierungen, Collagen, und Zeichnungen verbinden sich Extravaganz und Verwundbarkeit, Archaik und Kinderzeichnung. Und geben so ein pars pro toto Bild für das thematisch wie technisch reiche Oeuvre der Künstlerin.

Das Bild zeigt eine Graphik Carol Ramas.
Carol Rama, Le malelingue, 1997. © Archivio Carol Rama, Turin. Courtesy Franco Masoero und/and Alexandra Wetzel, Turin;
Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin. Foto: Nick Ash.

Zwei Füße, eine röntgenbildartige Hand auf einem Grundriss-ähnlichen schwarzen Untergrund. Die Bildbetrachtung als Hieroglyphen Lesen. Am rechten Bildrand ist eine Inschrift zu der zugrundeliegenden Zeichnung: “M. FERRERO – Le Macchine a Vapore e le Cladaie” (M. FERRERO – Die Dampfmaschinen und die Heizkessel). Eine Maschinenzeichnung also, darüber Nagellack und Gelstift in Silber, Rot, Rot Metallic und Rost. Man könnte nach der Bedeutung des Bildes fragen, jedoch scheint diese Frage abwegig: das Bild ist autonom. Beim Entfernen werden die Füße zu Inseln.

Zweites Bild, gleicher Ausgangspunkt: Zwei Füße, Fingerknöchel, Dampfmaschinenzeichnung, dieses Mal auf weißem Untergrund. Eine Edition, 15/25. Das gleiche Bild, ein völlig anderer Eindruck. Am unteren Bildrand in kinderartiger Schrift “carolrama 1998”. Die Ausstellung “Carol Rama” im Gutshaus Steglitz zeigt das graphische Spätwerk der italienischen Künstlerin. Die zwischen 1997 und 2004 entstandenen Radierungen, Collagen, Aquatinten, Ätzungen und Zeichnungen zeigen den Reichtum und die Eigenständigkeit dieser Schaffensphase Carol Ramas.

Das Bild zeigt eine Collage Carol Ramas.
Carol Rama, La Mucca Pazza, 2001. © Archivio Carol Rama, Turin. Courtesy Franco Masoero und/and Alexandra Wetzel, Turin;
Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin. Foto: Maurizio Elia.

“La Mucca Pazza” (Die verrückte Kuh) ist eine Collage auf Papier, bestehend aus einer Radierung und einem nebenstehenden Lederfetzen. Letzterer könnten drei umgedrehte Berge darstellen; oder hängende Brüste. Die Arbeit entstand 2001 und zeugt von der konstanten Hinwendung Carol Ramas zu neuen Themen: Sie nimmt Bezug auf die damalige BSE-Seuche und den mit der Krankheit einhergehenden Verhaltensstörungen der Tiere. Trotz ihres zeitlichen Bezugs ist die Arbeit formal zeitlos. 

Die Werkreihe “Cadeau” (Geschenk) zeigt einzelne Körperteile, einen Rücken, ein Hinterteil, weibliche Schenkel in farbig und schwarz-weiß. Datierend zwischen 1999 und 2002 war Carol Rama zu dieser Zeit 81 beziehungsweise 84 Jahre alt. Die Graphiken, wie auch die übrigen Werke der Ausstellung, scheinen nicht die einer gealterten Dame. Andererseits: welche ist die Bildsprache einer älteren Dame? Der Bildeindruck deutet auf Ana Mendieta oder Louise Bourgeois. Es liegt etwas Kindliches, Naives, darin, sowohl thematisch als auch in der Linienführung.

Eine weitere Collage der Reihe verbindet einen Fuß à la Baselitz mit dem Minimalismus eines Carl André oder Daniel Buren. Carol Rama war zeitlebens mit der internationalen Kunstszene vernetzt. In den 1970er Jahren reiste sie nach Paris und New York und traf dort unter anderem auf Picasso, Andy Warhol und Man Ray. Während die Verbindungen zu diesen Künstlern (hier ausdrücklich männlich) und den verschiedenen Strömungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Arbeiten Ramas spürbar sind, bilden sie etwas völlig Eigenes: Es liegt etwas Fantastisches, Fabelhaftes, und zugleich Verstörendes in ihnen.

Das Bild zeigt zwei Graphiken Carol Ramas.
Carol Rama, Enigmi, 2002 (links) und Appassionata II, 1998 (rechts). © Archivio Carol Rama, Turin. Courtesy Franco Masoero und/and Alexandra Wetzel, Turin; Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin. Fotos: Alexandra Wetzel.

Die zwei Arbeiten “Le Malelingue” (Die bösen Zungen) sind ebenfalls auf Ingenieurzeichnungen gearbeitet. In ihrer Verbindung von Verspieltheit und Geometrie finden sich starke Anklänge an Paul Klee. Carol Ramas Arbeiten scheinen eine Fortführung, ein Dialog.

Ein Kabinettraum zeigt eine Reihe weiblicher Torsi, Arm- und Beingliedmaßen sind abgetrennt. Alle Figuren tragen einen Pflanzenkopfschmuck, rot gefärbte Geschlechtsteile und lange rote Zungen, welche bereits im Vorraum präsent waren. Die Frauengestalten wirken verwundet, geschändet, verstört. Ihr Gesichtsausdruck scheint fanatisch, ein Starren ins Nichts oder auf ein froschartiges Reptil. Der Frauenkörper ohne Arme und Beine wirkt hilflos und zugleich wolllüstig, reduziert auf ein geschlechtlich notwendiges Minimum. Die Arbeiten scheinen eine Verbindung aus Horror und Märchen: Die Farbgebung ist fröhlich, die Motive verstörend. Lediglich einmal zeigt sich das Tier in Form von Pfauen als Kompanie und Trost, doch auch hier wiederholen die roten Schnäbel die gefärbten Zungen und Scheiden der Figuren.

Das Bild zeigt zwei Graphiken Carol Ramas.
Carol Rama, Tendresse, 2001 (links) und Cadeau, 2000. © Archivio Carol Rama, Turin. Courtesy Franco Masoero und/and Alexandra Wetzel, Turin; Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin. Foto: Alexandra Wetzel; Nick Ash.

Im dritten Raum wiederholen sich die diversen Motive, der Pflanzenkopfschmuck, die Schenkel und Körper, die Hand. Unter dem Titel “Seduzione (Mano)” (Verführung (Hand)) ist Letztere mit rotem Nagellack und dickem Goldschmuck beladen. Bei all ihrer Verführung hat auch diese Hand etwas Kindliches, Fragiles. “Il Rovescio di Achille” (Die Kehrseite des Achilles) zeigt zwei männliche Gestalten, eine von ihnen um 180° gedreht, Anklänge an Georg Baselitz. Die Körper hier sind intakt, die Männer halten ihre hervorstehenden Geschlechtsteile in der Hand und blicken aggressiv und stumpf zur Betrachterin. Der intakte männliche und der gebrochene weibliche Körper ziehen sich als Motive durch die Ausstellung und deuten auf die Biographie Carol Ramas. 

“Seduzione I, II und II” rufen die christliche Ikonographie aus Mann, Frau und Schlange hervor. Doch scheinen die Arbeiten einen umgekehrten Sündenfall zu präsentieren, mit dem Mann als Machthaber und Verbündetem der Schlange, der Frau als Ausgesetzten, Nebenstehenden. Die Verbindung von Mann, Frau und Körper findet sich in “Tendresse” (Zärtlichkeit): Das Motiv birgt ein männliches und weibliches Geschlechtsteil, die Studie eines Knies, einen Körper und darin eine kleine Figur, umschlossen wie in einem Kokon oder Ei. Das Ganze im Einzelnen, oder vice versa.

Carol Rama, Feticci (scarpa), 2003. © Archivio Carol Rama, Turin. Courtesy Privat; Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin. Foto: Ludger Paffrath.

Die Arbeiten Carol Ramas lassen umfassend Raum für Assoziationen, der exzeptionell fundierte Ausstellungstext weist verschiedene Interpretationsansätze. Und doch entziehen sich die Arbeiten der Deutung. Sie verbinden Fabel und Horror, Verwundbarkeit und Extravaganz, sind verspielt, archaisch und zugleich zeitlos.  Gezeigt wird eine Art geschändeter Urzustand, mit der Frau als Leidtragenden einem aggressiv Männlichen ausgesetzt. Und doch erscheint Letztere als essenziell würdevoll und frech. Die Zitate Carol Ramas in Katalog und Ausstellungstext bestätigen diese Kühnheit. Hier spricht keine Schwache, Geschändete; eher eine durch das Leben Gezeichnete. In diesem Sinne sind die Linien visueller Ausdruck einer Haltung.

Die Edition “La Mano Bianca” (Die weiße Hand) verbindet eine Zeichnung Ramas mit einem Haiku des Dichters und Freundes der Künstlerin, Edoardo Sanguineti:
“La mano bianca sotto
l’ultima neve
scopre i colori”
(Die weiße Hand unter dem letzten Schnee entdeckt die Farben). Mit Blick auf Carol Ramas Spätwerk:
Die schwache Hand
In den letzten Zügen
Entdeckt die Wahrheit.

WANN: Die Ausstellung „Carol Rama“ ist noch bis zum 1. Mai zu besuchen.
WO: Gutshaus Steglitz, Schloßstraße 48, 12165 Berlin

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