Warmes Zerbrechlichsein
"Käthe-Kollwitz-Preis 2022. Nan Goldin" in der Akademie der Künste

31. Januar 2023 • Text von

An ihr kommt aktuell wohl niemand vorbei: Nan Goldin. Die US-amerikanische Fotografin und Filmemacherin begleitet seit gut einem halben Jahrhundert “die Anderen” – jene Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen, die ihr Leben jenseits von Geschlechterrollen und Heteronormativität führen. Seit jeher hält sie mit der Kamera das Zusammenleben, die vielfältigen Ausdrücke von Liebe, Sexualität und Gewalt innerhalb ihrer Wahlfamilie, fest. Nan Goldin beschützt die Geschichten der Menschen, denen sie am nächsten ist und teilt die Schönheit all dieser Individuen mit uns. Durch ihre Linse dürfen wir Trixie, Jimmy, Thora und allen anderen Protagonist*innen ganz nah sein. Die Akademie der Künste zeigt nun eine große Werkschau und zeichnet die Künstlerin mit dem Käthe-Kollwitz-Preis aus.

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Nan Goldin, Mirror, Bangkok/Berlin/New York, 1991–2008, 2019, Archival pigment print (114 x 167 cm), Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery © Nan Goldin.

Auch wenn Nan Goldin sich lange Zeit im New Yorker Underground herumgetrieben hat, ist sie inzwischen schon lange im Kunst-Olymp angekommen. Das Monopol Magazin hat sie zur einflussreichsten Künstlerin im Jahr 2022 ernannt, in Berlin wird sie nun mit dem Käthe-Kollwitz-Preis ausgezeichnet. Die Akademie der Künste zeigt bis März eine Retrospektive mit rund 50 Werken aus unterschiedlichen Schaffensperioden – Schwarz-Weiß- und Farbfotografien aus ihren frühen Jahren in Bosten, aus New York, Berlin und südostasiatischen Städten, einige ihrer “Grids” und aktuelle Landschaftsaufnahmen. Auch einige der bekannten Arbeiten aus ihrem Bildband “The Ballad of Sexual Dependency” von 1986 oder dem erstmals 1993 veröffentlichten “The Other Side” sind vertreten. Die mit Musik hinterlegten Slide-Shows, die für das Werk von Nan Goldin ebenfalls von großer Bedeutung sind, werden in der Akademie der Künste nicht ausgestellt. Ein zentrales Thema, das sich durch das Gesamtwerk von Nan Goldin zieht ist Freundschaft. Ihre Fotos bewahren persönliche Geschichten und Erinnerungen, die voller Nähe, Wärme und Liebe stecken und gleichzeitig begleitet werden von Tod, Schmerz und Zerbrechlichkeit.

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Nan Goldin, Jimmy Paulette and Tabboo! in the Bathroom, 1991, Cibachrome print (72,6 x 101,6 cm), Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery © Nan Goldin.

Zwischen 1965 und 1976 versammelten sich queere Menschen, Dragqueens, trans Personen, Straßenkinder und Zuhälter*innen in der Bostoner Bar “The Other Side”. Hier begegnete Nan Goldin 1972 den Dragqueens Ivy, Naomi und Colette, denen sie nicht nur eine Fotoserie mit ihrer Super-8-Filmkamera widmete, sondern den bereits erwähnten Bildband mit dem gleichnamigen Titel. Die Fotografin war so fasziniert von ihrer Schönheit und ihrem Lebensstil, dass sie sich der Gruppe anschloss und zu ihrer Freundin wurde. “The Other Side” wurde zu einem wichtigen Zufluchtsort für die Künstlerin und zentraler Treffpunkt des Freundeskreises. In dieser Zeit entdeckte Nan Goldin ihre queere Identität, verliebte sich in Ivy und lebte mit ihr zusammen.

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Nan Goldin, Bed, Paris/New York, 1992–2009, 2019, Archival pigment print (114 x 167 cm), Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery © Nan Goldin.

Aus den Fotos von Nan Goldin geht ihre Faszination für alternative Lebensentwürfe deutlich hervor. An erste Stelle stehen immer die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Verbundenheit zu ihren Freund*innen. Erst im zweiten Schritt kann sich die künstlerische Idee entwickeln, weil Nan Goldin als Freundin, nicht ausschließlich als Künstlerin, die Lebensrealitäten ihrer Freund*innen teilt. Sie kann ihnen physisch mit der Kamera nur so an sie herantreten, weil sie ihnen menschlich sehr nah ist. Ihre Bildsprache, die Mimik und Gestik der Menschen, die Unmittelbarkeit des Moments transportieren dieses Gefühl von Nähe auch visuell. Die Fotografin ist Teil des Geschehens und keine stille Beobachterin. Sie bietet den Protagonist*innen ihrer Bilder eine breite Öffentlichkeit, macht “das Andere” sichtbar und hält es für immer fest. Ihre Fotos zeigen familienähnliche Strukturen und öffnen den Blick für Lebensmodelle und Identitäten außerhalb der gesellschaftlichen Norm. Dass in ihren Bildern viel Wertschätzung, viel Liebe, liegt, ist für die Betracher*innen nicht zu übersehen.

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Nan Goldin, Thora on my white bed, Brooklyn, NY, 2020, Archival pigment print (76,2 x 102 cm), Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery © Nan Goldin.

Die Ausstellung zeigt neben den frühen Arbeiten auch Werkgruppen aus den 1990er-Jahren in Manila und Bangkok, wo die Dragqueens, denen sich Nan Goldin anschloss, zum Teil in traditionellen Familienstrukturen lebten. Aber auch New York bleibt durch die Jahre hindurch ein zentraler Ort für ihr kreatives Schaffen. So sind in der Ausstellung auch junge Arbeiten zu sehen, die ihre Freundin, trans Frau und temporäre Mitbewohnerin Thora während der Pandemie und Lockdowns im gemeinsamen Apartment in Brooklyn zeigen – nackt, nachdenklich, nahbar und doch ganz in sich gekehrt. In diesen Arbeiten bringt Nan Goldin nicht nur die Lebensrealität ihrer Mitbewohnerin zum Ausdruck, sondern auch ihre eigene. Im Vergleich zu vielen anderen Arbeiten, ist die Künstlerin hier nicht in einen anderen Ort abgetaucht, sondern hat eine andere Person in ihr eigenes privates Umfeld hineingelassen, in ihre eigenen vier Wände, die während der Pandemie ein besonders wichtiger, lange sogar der einzige Zufluchtsort waren. Auch hier wird deutlich spürbar, dass die beiden viel mehr als eine Zweckgemeinschaft verbindet.

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Nan Goldin, Trixie on the cot, New York City, 1979, Cibachrome print (41 x 60 cm), Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery © Nan Goldin.

Das Besondere an Nan Goldins Fotos ist, dass sie Geschichten von wahrhaftiger, tiefer menschlicher Verbundenheit erzählen. Von authentischer Freundschaft, die nicht perfekt, aber umso ehrlicher ist. Beziehungen fühlen sich mal federleicht, mal sauschwer an. Sie sind geprägt von Verlusten, von Kummer und Schmerz und gleichzeitig so voller Wärme und Liebe, die eine Existenz ohne sie unmöglich macht. Nan Goldin hat im Laufe ihres Lebens und ihrer Karriere viele ihrer selbst gewählten Familienmitglieder wegen schwerer Krankheit, Selbstmord oder Drogensucht verloren. Auch sie litt viele Jahre unter ihrer Abhängigkeit nach dem Schmerzmittel Oxycontin. Und auch das macht sie in ihren Bildern und ihrem Aktivismus sichtbar. Sie sind teilweise hart, radikal und roh, aber dabei respektvoll, nicht zur Schau stellend. Dem Gegenüber hängen Fotos, die wahnsinnig zart, ruhig und verträumt sind, ein Gefühl von Leichtigkeit vermitteln. Das eine schließt das andere nicht aus, nichts davon ist unehrlich – die Bilder koexistieren.

Nan Goldin erzählt über ihre Bilder, wie wichtig ihr die Verbindung zu jenen Menschen war und ist. Sie zeigt, wie vielfältig Familie, Freundschaft und Leben aussehen kann. Wer sich voll und ganz auf einen Menschen einlässt, wird sich auch immer angreifbar und verletzlich machen. Das kann Angst machen. Gleichzeitig liegt darin auch die Chance, das große Los zu ziehen, Teil einer Gemeinschaft zu werden, die einen wertschätzt, respektiert und auffängt. Im Miteinander, in Gesprächen mit anderen Menschen, lernen auch wir selbst uns immer ein bisschen besser kennen, blicken über den eigenen Tellerrand hinaus. Die Welt könnte zu einem besseren Ort werden, würden wir uns als Kollektiv verstehen, vorurteilsfrei und mit so viel Aufmerksamkeit, Warmherzigkeit und Wertschätzung begegnen, wie Nan Goldin denen, die sie fotografiert.

WANN: Die Ausstellung läuft noch bis zum 19. März. Die Preisverleihung findet am 3. März um 20 Uhr in Anwesenheit der Künstlerin statt.
WO:
Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, 10557 Berlin.

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