Eine queere Ästhetik von Intimität
"New Queer Art" im Schwulen Museum Berlin

5. August 2021 • Text von

Nach Monaten von Social Distancing im Zuge der Pandemie konfrontiert uns das Schwule Museum Berlin mit einem Sehnsuchtsthema: Intimität. Mit dem Zeitpunkt der Ausstellung und der Auswahl der Werke, die im Rahmen von vier großen Leitthemen gezeigt werden, beweist Peter Rehberg kuratorisches Feingefühl. Zudem gelingt es Rehberg, eine queere Ästhetik von Intimität sichtbar zu machen. (Text: Sophie Louisa Reischies)

Links: Porträtfoto eines Schwarzen Mannes mit Kamera in der Hand. Rechts: Mehrere Fotografien zeigen verschlungene, leicht bekleidete Körper.
Emerson Ricard: “O. T.”, 2018, Fotografie. Courtesy of the artist. Ausstellungsansicht Intimacy Raum “Look at Us”, Foto: Ralf Rühmeier / SMU.

Der Titel der Ausstellung im Schwulen Museum Berlin, „Intimacy“, steht für viele wichtige Bedürfnisse, die während der sozialen Durststrecke zurückgestellt werden mussten: Nähe, Zuneigung, Freundschaften oder Begegnungen. Waren wir in den letzten Monaten zum Rückzug gezwungen, in unser Zuhause, der Verlängerung unseres Selbst und damit dem Ort höchster Intimsphäre, sehnen wir uns nun wieder nach Kontakten im Privaten sowie in den öffentlichen Cafés, Bars oder Clubs unserer Städte. Wir wollen Zusammensein und der Isolation ein Ende bereiten.

„Look at Us“ – ist die Aufforderung, die der erste Raum der Ausstellung im Schwulen Museum für uns bereithält. Er entführt unsere Augen in eine Bilderwelt intimer sozialer Situationen und gibt uns Einblicke in intime Szenen des queeren Berliner Untergrunds, der südafrikanischen LSBTIQ*-Szene, Fotostudios queerer, männlicher Künstler oder Betten. Wir sehen viel nackte Haut, verwobene Körper und körperliche Intimität; aber auch Subjekte, die den Blick zurückwerfen und uns auf unsere eigene, konsumierende Blickposition aufmerksam. Das sinnliche Porträt eines schwarzen Mannes, aufgenommen von dem US-amerikanischen Fotografen Emerson Ricard, mit dem Titel „Untitled“ (2018) spielt mit eben dieser Erotik von intimen Blickkontakten.

Malereien und Fotografien nackter, ineinander verschlungener Körper im Schwulen Museum Berlin.
Ausstellungsansicht “Intimacy”, Foto: Ralf Rühmeier / SMU.

Auf der Polaroid-Fotoserie „Polaroid Rage“ des russisch-amerikanischen Künstlers Slava Mogutin ist hingegen die verspielte Vertrautheit von kokettierenden Paaren festgehalten, die sich Seite an Seite liegend ihrer Zweisamkeit hingeben. Die Fotos wurden über die vergangenen beiden Jahre im Freundeskreis des Multimediakünstlers zwischen Berlin, Los Angeles und New York aufgenommen. Alle Werke des ersten Ausstellungsraumes befragen die Formen von Intimität, die wir erleben können. Sie führen uns zugleich vor Augen, wie wichtig Intimität für unseren Körper ist, dem Heim von Seele und Geist. Es scheint, als bräuchten wir intime Kontakte für unsere psychosoziale Ich-Entwicklung, um den eigenen Status quo festzustellen, aber auch zu hinterfragen. Intimität gibt uns die Möglichkeit, Orientierung zu uns selbst und den Personen in unserer Umwelt zu finden.

„Intimacy is about connection“, so lautet die treffende Bemerkung der israelischen Künstlerin Roey Victoria Heifetz, als sie in einer intimen Gesprächsrunde des Berlin Art Link (BAL) – Talk im Soho House nach ihrer Auffassung von Intimität gefragt wurde. Ihr Kunstwerk „The Envious once“ (2016-2017) ist ebenfalls in der Ausstellung im zweiten Raum „Our Bodies in Time“ zu sehen. Bei dieser Vorstellung von Intimität geht es um ein Sich-Verlieren und Sich-Finden im Anderen, aber auch um ein Auseinandersetzen mit der eigenen Identität und dem eigenen alternden Körper, so die Künstlerin Heifetz, deren gewaltige Zeichnung aus Bleistift, Tusche und Lack auf Papier in ihrem Berliner Studio entstanden ist. Mit dem Älterwerden und der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens setzt sich auch eine 3 Kanal-Videoarbeit/ Audio-Installation der Professorin Michaela Melián von 2012 auseinander, die das feministische Künstlerinnen-Duo Silvia Bovenschen – in dandyesquen Look – und Sarah Schumann in deren Charlottenburger Wohnung zwischen Gemälden und Büchern in den Blick nimmt. Über einen weiteren Kanal ertönen ihre Stimmen. Sie unterhalten sich über die Sichtbarkeit von Frauen in der Kunstgeschichte und fordern einen Platz für sie ein.

Eine Videoarbeit mit zwei Schwarzen personen sowie fotografien von Schwarzen Personen im Schwulen Museum Berlin.
Ausstellungsansicht “Intimacy”, Foto: Ralf Rühmeier / SMU.

Dass Intimität auch viel mit Sex, Lust und körperlicher Zuneigung zu tun hat, aber eben nicht mit Sex identisch ist, thematisiert der dritte Raum mit: „(Y)our Sex Power“, in dem sexuelle Szenen oder Intimitäts-Experimente gezeigt werden. Die Körper, in denen wir leben, genießen Berührungen, Reize und das Ausloten der eigenen körperlichen Grenzen. Wir können nicht berühren, ohne gleichzeitig berührt zu werden. Intimität beinhaltet Ambivalenzen und Dualismen wie den von „absorption and rejection“, so der französische Philosoph Jean-Luc Nancy, dessen Vortrag „Touche-touche“ vom März diesen Jahres in Kooperation mit dem ICI-Berlin und dem ZfL in der Ausstellung zu sehen ist.

Auf eine witzige Weise wird dies in einer farbenfrohen Video-Installation der Berliner Künstlerin Vika Kirchenbauer mit dem Titel „The Island of perpetual tickling“ (2018) gezeigt. Drei männliche Performer kitzeln sich gegenseitig auf einer großen blauen Matratze. Jeweils einer der drei Akteure ist mit rosa Riemen an die Matratze festgebunden, den Händen der anderen beiden ausgeliefert, um sich ganz dem Exzess der Berührungen hinzugeben. Kitzeln als Spiel oder sadomasochistische Praxis? Das Vergnügen, Gekitzelt zu werden, kann jedenfalls mit ebenso großer Intensität erlebt werden, wie sexuelle Intimität. Auch Kitzeln kann ein Spiel mit Macht und den Grenzen des Körpers sein – für beide Seiten, die dabei Lust empfinden.

Fünf Personen stehen nackt im Wasser. Sie sind von hinten zu sehen.
Victor Luque: “Whole”, 2018, Fotografie. Courtesy of the artist.

Die Ausstellung schließt mit einem Plädoyer: „More Parties for Us“. Wir sind dazu angehalten, Intimität wieder gemeinsam zu zelebrieren auf all den Spielplätzen für Erwachsene wie Festivals oder Clubs, von denen Berlin so viele zu bieten hat – Körper an Körper, Haut an Haut. Lust wieder auf Erkundungstour zu gehen, machen die Fotografien des Berliner Künstlers Florian Hetz, der auch im Berliner Club Berghain gearbeitet hat. Wie sinnlich gemeinsam erlebte Intimität nach dem Feiern sein kann, zeigt der Künstler Victor Luque mit einer Fotografie nackt badender Teilnehmer des WHOLE United Queer Festivals, die gemeinsam ihren Seinszustand in der Stille eines Sees genießen. Auf den Werken von Kerstin Drechsel und Rafael Medina können wir sehen, dass insbesondere Clubs als Orte der Begegnung, der wilden Exzesse oder Orgien uns dabei helfen, Intimität ganz ungezwungen zu erforschen und uns zu entdecken.

WANN: Die Ausstellung läuft noch bis Montag, den 30. August 2021 
WO: Schwules Museum Berlin, Lützowstraße 73, 10785 Berlin 

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