Über verlorene Bilder A.L. Steiner bei Deborah Schamoni
17. Januar 2023 • Text von Carolin Kralapp
In “Prologue: Disaster Paradise” zeigt die Galerie Deborah Schamoni in München derzeit Fotografien der US-amerikanischen Künstlerin A.L. Steiner, die lange Zeit verschollen waren. Sie zeigen intime Nahaufnahmen schlafender Personen aus dem persönlichen Umfeld der Künstlerin sowie Szenen von Müll und Lebensmitteln. Welche Wirkung erzeugen solch verlorene Bilder heute, die einem breiten Publikum erst wieder nach langer Zeit zugänglich gemacht werden? Was verraten uns die Abzüge über vergangene Tage und unsere Gegenwart? Wir wagen eine Annäherung.
Es ist nur schwer vorstellbar, dass Kunstwerke einfach verloren gehen. Bei A.L. Steiner und ihrer Serie “Eat, Sleep, Disposable (retrieved)”, die zwischen 1997 und 2000 entstanden ist, ist dieser eher unwahrscheinliche Fall eingetreten. Wie genau es zu diesem Verlust kam, ist nicht eindeutig geklärt. Nach einer Ausstellung in London 2005 gingen einige der Fotografien in einem Kunstlager verloren und wurden in sehr gutem Zustand in einer Transportkiste wiederentdeckt – klar, dort waren sie auch bestens vor Sonneneinstrahlung geschützt. Diese Fotoabzüge hinter Acrylglas haben es nun nach München in die Galerie Deborah Schamoni geschafft und werden erstmalig wieder der Öffentlichkeit präsentiert. Das Besondere dabei ist, dass wir heute, im Jahr 2023, mit Abstand auf die verlorenen Bilder schauen, die eine Zeit vor Smartphones und sozialen Netzwerken porträtieren und konservieren.
Aufgenommen wurden die Bilder auf einem 35mm Film und anschließend im Großformat in einer Dunkelkammer entwickelt – in einer Umbruchsphase, in der das Analoge allmählich dem Digitalen weichen musste. Inzwischen erfahren Aufnahmen auf 35mm in den sozialen Medien ein echtes Comeback. Unter #35mm findet sich auf Instagram eine riesige internationale Community zusammen, die eine stetig wachsende Bildergalerie kuratiert. Analoge Bilder werden in die digitale Welt getragen. Erst werden alte Technologien durch modernere abgelöst bis sie Jahrzehnte später doch wieder Einzug finden in den Alltag der Gesellschaft, aber nun mit den modernen koexistieren. Das kennen wir nicht nur aus dem Bereich der Fotografie, sondern auch aus der Musikbrache. Taylor Swifts neuste Erfolgsplatte “Midnights” ist beispielsweise das erste Album seit den 1980ern, das häufiger auf Vinyl verkauft wurde als auf CD. Viele Künstler*innen bringen ihre Musik teilweise sogar wieder auf Kassetten heraus – auch hier zeigt sich: retro ist Trend! A.L. Steiner darf nun also auf dieser künstlerischen Trendwelle mitreiten. Wenn auch eher zufällig als durch schicksalhafte Fügung, dürfen ihre Bilder genau zur richtigen Zeit das Licht der Öffentlichkeit erblicken und ihre eigene Renaissance erfahren.
Die Fotos von A.L. Steiner werden ausgezeichnet durch Intimität, Nahbarkeit und Zärtlichkeit. Sie transportieren ein Gefühl von authentischer menschlicher Nähe, nach der heutzutage zunehmend gesucht werden muss. Dass sie nicht einfach irgendwelche Menschen abgelichtet hat, sondern ganz gezielt ihr persönliches Umfeld, geht deutlich aus ihren Bildern hervor. Die ausgestellten Arbeiten bei Deborah Schamoni erwecken thematisch Assoziationen zur Bildsprache von Nan Goldin, die ebenfalls häufig ihren engsten Freund*innenkreis als Fotomotive auswählte und eine intensive Nähe und besondere Verbundenheit visualisiert, nur auf eine weitaus derbere Art und Weise als sie A.L. Steiner wählt. Dennoch ist die Gefühlswelt, die transportiert wird, eine ganz ähnliche. Und A.L. Steiner ist gleichermaßen keine stille Beobachterin am Rande des Geschehens, sondern Teilnehmende. In ihrer bildlichen Abwesenheit ist ihre räumliche Präsenz stets spürbar.
Statt perfekter Inszenierung erzählen die Fotos von A.L. Steiner Alltagsgeschichten – von Menschen wie dir und mir. Sie sind ruhig, respektvoll und wertschätzend. Sie zeigen keine Handys oder Smartphones und geben teilweise Hinweise auf ihre Entstehungszeit, zum Beispiel anhand einer Zeitung aus dem Jahr 2000. Die Fotos waren zwar auch damals schon reproduzierbar, das bringt die Fotografie als Medium nun mal mit sich, aber in einer völlig anderen Dimension als es heute möglich ist. Sie waren nur für einen bestimmten Kreis an Menschen erfahrbar und sichtbar. Sie waren auch schon in der Zeit ihrer Entstehung nicht allein privat, aber gewissermaßen geschützter. Statt auf irgendeiner Speicherkarte oder einem Computer, sind sie in einem physischen, einem tatsächlichen Raum, verloren gegangen und auch wiedergefunden worden. Auch für die Künstlerin selbst waren die Werke eine Wiederentdeckung.
Die Technologie hinter A.L. Steiners verlorenen Bildern ist eine langsame, genauso sind es die dargestellten Szenerien. Bildmotive mussten bewusster ausgewählt werden und auch die Entwicklung der Bilder hat eine bestimmte Zeit in Anspruch genommen. Hinter A.L. Steiners Fotos von damals steckt keine Intention des Postens und Teilens im Internet, dennoch sind sie genau in dieser Zeit wieder ans Tageslicht gekommen und schreiben sich gewissermaßen in den Gegenwartsprozess, in das Fortschreiten der Zeit, ein. Die verlorenen Bilder schlagen eine Brücke vom Damals zum Heute und stoßen Gedanken und Verknüpfungen zu den neuen technologischen Entwicklungen und der digitalen Erfassung von Bildern an. Wir alle sind durch das Fortschreiten der Technologie zu Fotograf*innen und Beobachter*innen der Gegenwart geworden, die täglich Millionen von Schnappschüssen festhalten und mit der Welt teilen. Die Position von A.L. Steiner bietet dazu gewissermaßen eine Art Gegenposition aus früheren Zeiten und verliert dennoch keinesfalls an Aktualität und Relevanz. Eher setzt sie Gedanken frei, das Konsum- und Produktionsverhalten von Bildern im Jetzt zu reflektieren und kritisch zu hinterfragen.
WANN: Die Ausstellung “Prologue: Disaster Paradise” von A.L. Steiner läuft nur noch bis Samstag, den 21. Januar.
WO: Deborah Schamoni, Mauerkircherstraße 186, 81925 München.