Verschwommene Erinnerungen
Nan Goldin beim Neuen Berliner Kunstverein

22. April 2022 • Text von

Eine uns unbekannte Menschenmenge, dicht an dicht gedrängt und Stimmengewirr. Die Arbeit “The Crowd. Paternò” der US-amerikanischen Fotografin Nan Goldin wird derzeit im öffentlichen Raum auf einem großen Billboard des Neuen Berliner Kunstvereins gezeigt – im Herzen Berlins vor einer mit Graffitis besprühten und für die Stadt typischen Häuserwand. Der begleitende Sound vom Soundwalk Collective vermittelt die dazugehörige Atmosphäre und ein Gefühl von Melancholie beim Betrachten der verschwommenen Szene.

Straßenansicht in Berlin-Mitte, eine mit Graffiti besprühte Häuserfassade, vor der ein großes Bildboard einer Nan Goldin Fotografie steht
Nan Goldin. The Crowd, Paternò, 2022, Installationsansicht Straßenkreuzung Friedrichstraße / Torstraße, in Laufweite des Neuen Berliner Kunstvereins (n.b.k.) © Foto: Neuer Berliner Kunstverein (n.b.k.) / Jens Ziehe.

In einer Menschenmenge stehen, sich berühren, gemeinsam Bier trinken und Menschen bei der nächsten Runde an der Bar kennenlernen. Fühlt sich alles irgendwie noch ein bisschen weit weg an. Nach knapp zwei Jahren Pandemie und dem ständigen Reduzieren von Kontakten, dem ewigen Abwägen, ob man nun wirklich zu diesem oder jenen Event gehen sollte, scheint die Fotoarbeit “The Crowd. Paternò”, die 2004 entstanden ist und für das n.b.k. Billboard adaptiert wurde, eine Art Symbolbild für ein Sehnsuchts- und Melancholiegefühl der letzten zwei Jahre zu sein. Dass es ausgerechnet in Berlin-Mitte vor Graffitis und an einer stark belebten Straße aufgestellt wurde, liegt zum einen an der räumlichen Nähe zum Neuen Berliner Kunstverein, scheint aber gleichermaßen inhaltlich sinnig und bewusst gewählt.

Berlin gilt als Feier-Hochburg, als ein Ort der Freiheit, den viele Menschen aus aller Welt immer wieder aufsuchen, um sich selbst zu finden oder aber zwischenzeitlich zu verlieren. Berlin ist ein bisschen dreckig und das Gegenteil von perfekt, gleichzeitig wahnsinnig vielseitig, bunt und turbulent. Berlin ist so viel gleichzeitig, dass es in keine Schublade passt. In etwa so lassen sich auch viele von Nan Goldins Arbeiten beschreiben. Sie sind unperfekt, aus dem Moment heraus, verwackelt und dabei authentisch. Sie zeigen Menschen, die zusammenkommen, gemeinsam leben und lieben, sich im Drogenrausch aufzulösen scheinen. Ihre Fotos bilden düstere Ausschnitte eines Lebens ab, das von Drogenkonsum und Rauschzuständen beeinflusst wurde. Die Künstlerin hat außerdem einen engen Bezug zu der Stadt Berlin: sie hat einige Jahre in der deutschen Metropole gelebt und stattet der Stadt bis heute immer wieder Besuche ab. Zahlreiche ihrer Fotografien sind in Berlin entstanden und dokumentieren ihre Zeit hier.

Verschwommenes, gelb-leuchtendes Selbstportrait im Spiegel von der Künstlerin Nan Goldin
Nan Goldin, Self-portrait on New Yearʼs Eve, Malibu, California, 2006, Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery.

Nan Goldins Ästhetik lebt davon, dass sie nicht voyeuristisch ist. Die Fotografin ist nicht Außenstehende, stille Beobachterin, sie ist ein Teil des Moments, den sie in seiner wahren Gestalt einzufangen versucht. Dadurch entstehen teilweise verschwommene, verwackelte Aufnahmen, die nur noch eine Idee, einen Hauch von Erinnerung an das Geschehene vermitteln und immer auch etwas Rätselhaftes, etwas Melancholisches, hinterlassen. Wer einmal ins Nachtleben eingetaucht ist, mit Freundinnen und Freunden eine intensive Zeit verbracht hat und durch die dunklen Straßen gezogen ist, weiß vielleicht, wie verworren und undurchsichtig die einzelnen Geschehnisse zurückbleiben können. In manchen Momenten leben wir so schnell, dass keine Zeit bleibt, sich auf die einzelnen Sequenzen tatsächlich einzulassen, sie vollständig wahrzunehmen. Solche Gefühle hinterlässt auch das großgezogene Bild “The Crowd. Paternò” in Berlins Mitte bei näherer Betrachtung. Die Gespräche und Bewegungen der uns fremden Menschenmenge scheinen so schnell und parallel zueinander abzulaufen, dass nur der flüchtige Eindruck zurückzubleiben scheint sowie die Frage, was die Menschen wohl miteinander, untereinander und auch ganz für sich für Erfahrungen gemacht haben. Und mittendrin Nan Goldin. Immer dort, wo das Leben pulsiert und Menschen zusammenkommen.

Die Fotografie wird begleitet von einer Ton-Spur, die das Soundwalk Collective beigesteuert hat. Sie bringt das zum Ausdruck, was die Fotografie allein nicht ausdrücken kann. Sie schafft den atmosphärischen Rahmen und verortet die Szenerie, macht sie erfahrbarer für uns Betrachter*innen. Man hört nicht eindeutig einzuordnende Stimmen, Personen, die an der Bar Getränke bestellen, hier und da ein Klirren, stimmungsvolle, ruhige Klänge, mal ein leichtes Klatschen. An der belebten Straßenkreuzung an der Friedrichstraße / Ecke Torstraße sind die Arbeiten von Nan Goldin und dem Soundwalk Collective ein Ausbruch aus dem turbolenten Stadtgeschehen drumherum, ein kurzes Pausieren, ein Schwelgen in verschwommenen Erinnerungen.

Ein ausführliches Portrait über Nan Goldin und ihre Arbeit aus dem letzten Jahr findet ihr hier. Über die Slide-Show “Memory Lost”, zu der auch “The Crowd. Paternò” gehört, könnt ihr in dem Beitrag mehr nachlesen. Über die aktuelle Ausstellung “Thunder in Your Throat”, die noch bis 1. Mai im n.b.k. zu sehen ist, hat Autorin Alexandra hier geschrieben.

WANN: Das Billboard von Nan Goldin ist bis zum 28. August 2022 kostenlos im Berliner Stadtraum zu sehen.
WO:
Straßenkreuzung Friedrichstraße / Torstraße in Laufweite des Neuen Berliner Kunstvereins (n.b.k.)

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