Kontrollverlust und Überlebenskampf
Über Nan Goldin und den Glauben an die Fotografie

24. Mai 2021 • Text von

Die US-amerikanische Fotografin und Filmemacherin Nan Goldin ist nicht nur eine unkonventionelle Künstlerin, sondern auch Aktivistin und Überlebenskämpferin. Seit Jahrzehnten gewährt sie intime Einblicke in ihre Lebensrealität und teils schmerzhafte Vergangenheit, die geprägt ist von Verlusten, Drogensucht, aber auch ziemlich besonderen Beziehungen. Über die Bedeutung ihrer Arbeit und den Glauben an die Fotografie.

Eine nackte Transfrau liegt mit dem Rücken auf dem Bett, auf einer weißen Bettdecke, die Arme sind ausgestreckt und der Blick nach oben zur Decke gerichtet, auf das Gesicht und den Oberkörper fällt Licht
Nan Goldin, Thora’s eye, Brooklyn, NY, 2021, Dye sublimation print on aluminum, 30 x 40 in. (76.2 x 101.6 cm), Edition of 7 (24963). Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery, Copyright: Nan Goldin.

Zum ersten Mal aufmerksam wurde ich auf Nan Goldin und ihre Kunst zu Beginn meines Bachelorstudiums im Rahmen eines Seminars. Ihre “Ballade von der sexuellen Abhängigkeit” (Original: “The Ballad of Sexual Dependency”) markierte 1986 ihren Durchbruch als Künstlerin und gehört bis heute zu ihren bekanntesten Arbeiten. Das Kunstwerk war ursprünglich eine Diashow, hinterlegt mit Musik, die private Bilder aus dem sozialen Umfeld der Künstlerin zeigte – insgesamt 800 Fotografien, die zwischen 1978 und 1986 in New Yorks Underground-Szene entstanden sind. Seit 1986 kann man das visuelle Tagebuch, das in unperfekten und teilweise stark verschwommenen Schnappschüssen ihren Freundeskreis und das Transvestitenmilieu der Zeit dokumentiert, auch in Form eines Bildbandes betrachten. Drogenkonsum, Rausch, Gewalt, menschliche Nähe und Distanz werden in den Bildern offengelegt.

Eine digitale Anzeige, auf der in gelben Großbuchstaben MEMORY LOST mit zwei Ausrufezeichen steht, darüber ein blaues Schild mit einer weißen 8
Nan Goldin, Memory Lost, Porta Nuova, Turin, Italy, 2000, Dye sublimation print on aluminum, 20 x 30 in. (50.8 x 76.2 cm), Edition of 15 (24979). Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery, Copyright: Nan Goldin.

Nan Goldins Lebenslauf ist geprägt von tiefen Einschnitten, Rückschlägen und Herausforderungen: Dem Suizid ihrer älteren Schwester, dem Versuch, mit 14 Jahren auf eigenen Beinen zu stehen, der Drogensucht und den ständigen Verlusten von Freund*innen, die dieser zum Opfer gefallen sind. Zahlreiche Ausnüchterungsversuche, die Rückfälle, die Medikamentenabhängigkeit im Jahre 2014, die sich nach einer Operation entwickelte und sie fast das Leben kostete – all diese Erlebnisse sind nicht nur Teil ihres Lebens, sondern auch eingeschrieben in ihr künstlerisches Schaffen. Persönliche Erfahrungen und Erinnerungen verschwimmen mit dem Medium der Fotografie, das all das Leben in den einzelnen Momenten konserviert und für die Ewigkeit festhält. Sie bleiben real.

Eine graue Katze, die auf einem pinken Kissen gebettet ist und leicht von der Sonne angestrahlt wird
Nan Goldin, Gaja with a coyote, Brooklyn, NY, 2020, Dye sublimation print on aluminum, 30 x 40 in. (76.2 x 101.6 cm), Edition of 7 (24960). Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery, Copyright: Nan Goldin.

Als Folge ihrer Abhängigkeit nach dem Schmerzmittel Oxycontin und ihrem Kampf gegen die Sucht engagiert sich Nan Goldin mittlerweile als Aktivistin gegen die Familie Sackler und das Unternehmen Purdue Pharma, das dieses Medikament vermarktet und im großen Stil vertreibt. Goldins Anklage: Die Sacklers sind mitverantwortlich für den Anstieg der Zahl von Drogenabhängigen und Todesfällen im Zusammenhang mit Opioid-Schmerzmitteln in Amerika und verharmlosen bewusst die Gefahren, die mit dem Medikament einhergehen. Seit 2017 initiiert sie mit ihrer Gruppe P.A.I.N. (Prescription Addiction Intervention Now) Protestaktionen in großen Kunsthäusern, um auf die Aktivitäten der Pharma-Familienmitglieder, die auch als Mäzenen in der Kunstwelt bekannt sind, aufmerksam zu machen und Museen dazu aufzurufen, zukünftig keine Spendengelder mehr von ihnen anzunehmen.

Rückenansicht einer nackten Frau, die vor einem Schminktisch sitzt und in den Spiegel schaut, vermutlich schminkt sie sich gerade, das rechte Bein ist noch halb auf einem Sitzmöbelstück abgelegt
Nan Goldin, Thora at my vanity, Brooklyn, NY, 2021, Dye sublimation print on aluminum, 30 x 40 in. (76.2 x 101.6 cm), Edition of 7 (24964). Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery, Copyright: Nan Goldin.

Nan Goldins Werk umfasst neben (Selbst-)Portraits und Momentaufnahmen ihres persönlichen Umfelds auch träumerische Landschaftsszenerien, Tierdarstellungen, Stillleben oder an Renaissance-Gemälde angelehnte Bildkompositionen von Körpern und Gegenständen. In einem Gespräch mit Thora Siemsen, Autorin, Redakteurin und Transfrau, die seit Ausbruch der Pandemie Nan Goldins Mitbewohnerin in Brooklyn, Wegbegleiterin und gleichzeitig ein wichtiges Bildmotiv ihrer neuesten Arbeiten ist, erzählt Goldin: “Maybe part of my success is that I never cared about photography. I wanted to make films.” Die Arbeit mit Film Stills, die Kreation von Slide-Shows aus ihrem Bilderarchiv, ist ihre Art des Filmemachens, die es ihr möglich macht, völlig autark zu sein.

Eine träumerische Wasser- und Wolkenlandschaft in verschiedenen Variationen von Violett
Nan Goldin, Lavender Landscape, Buncrana, Ireland, 2002, Archival pigment print mounted on 2mm dibond with chassis, 59 x 88 5/8 in. (149.9 x 225.1 cm), Edition of 3 plus 1 artist’s proof (23143). Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery, Copyright: Nan Goldin.

“Memory Lost” in der Marian Goodman Gallery in New York ist die erste Einzelausstellung von Nan Goldin seit fünf Jahren, die alte Arbeiten aus den Archiven der Künstlerin mit neuen und überarbeiteten Slide-Shows und fotografischen Serien vereint. Die Künstlerin hat die Ausstellung in Absprache und enger Zusammenarbeit mit dem Team der Galerie kuratiert. Die Slide-Show “Memory Lost”, die das Hauptwerk der Ausstellung bildet, bezeichnet Nan Goldin als eine besonders schmerzvolle Arbeit, da sie eine Vielzahl der Bilder jahrzehntelang nicht mehr gesehen und sie gewissermaßen aus ihrem Gedächtnis verbannt hatte. Die Arbeit erzählt von einem Leben, das durch die Linse der Drogenabhängigkeit gelebt wurde und einen verschwommenen Schleier hinterlassen hat. Die zweite Slide-Show “The Other Side” ist eine Hommage an all ihre Transgender Freund*innen, die sie seit 1992 begleiten. Nan Goldin sagt über diese Arbeit: “The people in these pictures are truly revolutionary; they are the real winners of the battle of the sexes because they have stepped out of the ring.”

Eine verschwommene Fotografie eines Blumenstrauchs, der vor einem Fenster steht, es ist Tag und am Fenster klebt ein beschriebener Zettel
Nan Goldin, 1st days in quarantine, Brooklyn, NY, 2020, Dye sublimation print on aluminum, 30 x 40 in. (76.2 x 101.6 cm), Edition of 7 (24959). Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery, Copyright: Nan Goldin.

In seinem Text “Nan Goldin – Rebellion und realistische Romanze”, der in dem Bildband “Diving for Pearls” der Kestner Gesellschaft 2015 publiziert wurde, findet der amerikanische Schriftsteller Glenn O’Brien meiner Meinung nach sehr treffende Worte zum Werk der Künstlerin: “Nan Goldin zeigt uns eine andere Welt, die mitten in der anerkannten existiert, einen verborgenen Platz, an dem Menschen leben, ein Platz, den manche besuchen können und manche nicht, ein Platz, an dem es keine Geschichte gibt, keinen Verdrängungskampf. Nur die Ewigkeit, die wir manchmal in einem Gesicht erhaschen können.” Im Gespräch beschreibt die Direktorin der Marian Goodman Gallery, Rose Lord, die Fähigkeit Nan Goldins, aufschlussreiche und fesselnde Porträts der Gemeinschaften, die sie umgeben, zu machen, und darin die Liebe, Menschlichkeit und Unterstützung innerhalb dieser alternativen Familien einzufangen, als Goldins großes Talent. Das ist es, was ihre Arbeiten – menschlich wie politisch – so relevant macht.

Nan Goldins Mitbewohnerin Thora, eine Transfrau, liegt nackt auf einem Bett, auf einer weißen Bettdecke und schaut in Richtung der Betrachtenden
Nan Goldin, Thora on my white bed, Brooklyn, NY, 2021, Dye sublimation print on aluminum, 30 x 40 in. (76.2 x 101.6 cm) Edition of 7 (24962). Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery, Copyright: Nan Goldin.

In Zeiten von perfekt kuratierten Instagram-Feeds, fragwürdigen Beauty-Filtern und Bildbearbeitungsprogrammen fällt es schwer, der Fotografie noch Glauben zu schenken. Und auch wenn Nan Goldins Fotografien häufig nicht in die Vorstellung eines perfekten Bildes zu passen scheinen, büßen sie nichts an Ästhetik ein und bewahren in ihrer Sprache eine Authentizität und Ehrlichkeit, die mich als Betrachterin immer wieder aufs Neue tief berührt. Nan Goldin kann auch nur schön, das zeigt sich sowohl in der Vergangenheit als auch in ihren neuesten Arbeiten, aber an vielen Stellen geht sie einen entscheidenden Schritt weiter. Ihre Bilder sind eine Einladung, durch das Schlüsselloch zu schauen, und sie geben jenen Menschen aus ihrem Umfeld eine Stimme – Bühne – die in der normativen Gesellschaft noch immer nicht ausreichend gehört oder gesehen werden. So angesagt, glamourös und angeberisch die Fotografie in vielen Fällen sein mag, so holt Nan Goldin sie mit ihrer Arbeit zurück auf den Boden der Tatsachen und weist sie zurück in ihre Grundfesten – in die Form des Realismus, der sie ursprünglich mal angehörte. Nan Goldin schafft einen Ort, an dem der Fotografie und auch der Menschlichkeit wieder Glauben geschenkt werden kann.

WANN: Die aktuelle Ausstellung “Memory Lost” ist bis Samstag, den 12. Juni, für Besucher*innen geöffnet. Im Online Viewing Room der Galerie kann man vertiefende Eindrücke zur Ausstellung erhalten.
WO:
Marian Goodman Gallery, 24 W 57th St, New York, NY 10019.

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