Gemuschelte Nuscheln Hanne Lippard bei CCA Berlin
6. April 2022 • Text von Julia Meyer-Brehm
Wie vielschichtig kann ein Zungenbrecher sein? Die Soundinstallation “The Myths and Realities of Achieving Financial Independence” bei CCA Berlin zelebriert eine englische Wortfolge. Hanne Lippard widmet sich auf spielerisch-sezierende Weise der Geschichte einer Meeresmuschelsammlerin.
Betritt man die Räumlichkeiten von CCA Berlin, kommt fast ein bisschen Urlaubsstimmung auf: Wie eine kleine Insel breitet sich Hanne Lippards Installation vor einem aus. Kreisförmig ist Sand auf dem Boden verteilt, umgeben von vier Lautsprechern, die das Eiland wie zusammengefaltete Sonnenschirme flankieren. Aus jedem von ihnen tönt die Stimme der Künstlerin: „She sells seashells on the seashore“, heißt es da. „The shells she sells are surely sea shells.“
Der bekannte englische Zungenbrecher ergießt sich im Kanon in den Raum. Waghalsig stürzt sich Lippard in das Aufsagen der komplizierten Wortfolge, ist aber selbst vor Versprechern nicht gefeit. Es braucht einige Umrundungen der Installation, um auszumachen, aus welchem Lautsprecher es nun säuselt, flüstert oder deutlich spricht. Manchmal verstummen einzelne von ihnen ganz. Vor lauter Meeresmuscheln und Zischlauten kann einem dabei schon ein bisschen schwindelig werden.
Wer Lippards Werk kennt, weiß, dass man sich oft einfach nur zurücklehnen und ihrer entspannenden Stimme lauschen möchte. Wäre aber Verschwendung: Denn die Künstlerin spinnt den Zungenbrecher zu einer komplexen Geschichte weiter. Wer ist die Person, die Muscheln am Meeresstrand sammelt – und was treibt sie an? Am Anfang steht die Idee von finanzieller Unabhängigkeit. Doch schnell wird deutlich, dass die Protagonistin von Ungleichbehandlung und finanzieller Not betroffen ist. Ihr Lohn liegt nämlich „weit unter dem Meeresspiegel”.
Ursprünglich soll übrigens die Engländerin Mary Anning Inspiration für den britischen Zungenbrecher gewesen sein, der eigentlich ein Lied gewesen ist. Die Fossiliensammlerin gilt als eine der ersten Paläontologinnen und lieferte der Wissenschaft bedeutende Erkenntnisse zu Fisch- und Flugsauriern. Ihren Lebensunterhalt bestritt Anning, genau, durch den Verkauf von Fossilien an der Meeresküste.
Lippards Auseinandersetzung mit Sprache ist nicht nur humorvoll, sondern auch kritisch-sezierend: Ihre Geschichte der Meeresmuschelsammlerin endet ausweglos. Sie versteinert und wird selbst zu einem Muschelfundstück, das wiederum irgendwann von einer Meeresmuschelverkäuferin verkauft werden wird. Ein Kreislauf, der wenig Hoffnung auf Veränderung verspricht. Und schon beginnt die Künstlerin erneut: „The shells she sells are surely seashells …” Es fällt schwer, sich aus dieser loop-artigen Klanglandschaft zu lösen, die einen ein bisschen umarmt und ein wenig einlullt. Schafft man es doch, verlässt man CCA Berlin mit dem Kopf voll Frikativen und einem hoffnungslosen Zungenbrecher-Ohrwurm.
WANN: Die Soundinstallation „The Myths and Realities of Achieving Financial Independence” ist noch bis Samstag, den 16. April, zugänglich.
WO: CCA Berlin – Center for Contemporary Arts, Kurfürstenstraße 145, 10785 Berlin.