Undurchsichtige Wiedergänger Dorota Gawęda und Eglė Kulbokaitė im Off-Space Sentiment
21. September 2023 • Text von Anja Grossmann
Mit „Upiór“ zeigt der Zürcher Off-Space Sentiment das Künstlerinnenduo Dorota Gawęda und Eglė Kulbokaitė. In der Ausstellung zu sehen sind maskenähnliche Arbeiten aus Holz und Metall. Ihre langen, auskragenden Spitzen können den Augen ihrer Betrachtenden bedrohlich nahe kommen. Sie erscheinen wie objektgewordene Personifikationen von Upiór, rätselhaften Zwischenwesen, die in slawischen Volkserzählungen beschrieben werden.
Die Basis der ausgestellten Arbeiten von Dorota Gawęda und Eglė Kulbokaitė bilden flache Rundformen aus glattem Metall. An den Wänden des Ausstellungsraums von Sentiment sind sechs dieser Objekte auf Augenhöhe der Betrachtenden angebracht. Sie weisen Aussparungen, Löcher und feine Kratzspuren auf. Teilweise ragen lange Spitzen aus Holz aus den Metallscheiben hervor.
Die Form der Arbeit „Dead Ringer I“ erscheint als nach unten geöffneter Dreiviertelkreis mit mehreren kleinen und zwei großen Löchern. Dazwischen ragen drei kegelförmige Spitzen aus Holz hervor. Gawęda und Kulbokaitė verbinden in dieser Arbeit helles, mit Seife behandeltes Ahornholz und Aluminium.
Das gemeinsame visuelle Erfahren der beiden Materialien in einem Objekt lässt die gegensätzlichen Eigenschaften ihrer Oberflächen hervortreten. Das Holz erscheint besonders weich und opak, das Metall wirkt im Gegensatz dazu glatt und spiegelnd. Organisches und anorganisches Material treffen hier kontrastreich aufeinander. Die spezifische Anordnung des Materials weckt Assoziationen zu einer Maske oder einem Vogelkopf. Ihre rätselhafte Wirkung ergibt sich in der Zusammenschau ihrer Form und ihrer Beschreibung durch die Künstlerinnen.
Gawęda und Kulbokaitė geben in der Materialbeschreibung aller Aluminiumarbeiten an, sie hätten das Material im CERN gefunden. CERN, die Europäische Organisation für Kernforschung, ist eine Forschungseinrichtung in der Nähe von Genf, die mit Hilfe großer Teilchenbeschleuniger den physikalischen Aufbau von Materie erforscht. Dort werden in einem Ring von fast 30 Kilometer Durchmesser Elementarteilchen aufeinander geschossen, um die Vorhersagen von physikalischen Standardmodellen zu überprüfen. 2022 waren Gawęda und Kulbokaitė als Artists in Residence an der Forschungseinrichtung zu Gast. Dabei kamen sie in engen Austausch mit den ansässigen Forschenden.
Das Interesse der Auseinandersetzun der Künstlerinnen mit Themen der Physik lag dabei vor allem auf der Merkwürdigkeit des Aufbaus aller Dinge, welche die Quantenphysik in ihrer Forschung zutage fördere. Vor Antritt des Residenzprogramms erklären sie: “We hope that the engagement with quantum physics has the potential to break normative patterns of human behaviour and negotiate new ways of relating to the natural world.” – In der deutschen Übersetzung: “Wir hoffen, dass die Beschäftigung mit der Quantenphysik das Potential birgt, normative Muster menschlichen Verhaltens aufzubrechen und neue Wege auslotet, sich zur natürlichen Welt zu verhalten.“
Was sie von ihrem Aufenthalt am CERN mitbringen, sind Aluminiumteile, deren Zuordnung auch mit oder gerade wegen dieser Herkunftsangabe mysteriös erscheint. Handelt es sich tatsächlich um Maschinenteile des Teilchenbeschleunigers? Waren sie an physikalischen Versuchen beteiligt? Oder handelt es sich um Ersatzteile, die nicht mehr gebraucht wurden? Der Titel „Dead Ringer“ stellt zumindest sprachlich einen Verbindung zu dem überdimensionierten Ring in CERN her. Welche Verwendung das Material vor der Bearbeitung durch Gawęda und Kulbokaitė tatsächlich hatte, bleibt unklar.
Als Teil der Arbeiten „Dead Ringer I – VI“ erscheinen die perforierten Aluminiumscheiben weniger wie Maschinenteile, sondern wecken Assoziationen zur Physiognomie unbekannter Wesen. Zwei große runde Löcher blicken wie leere Augen in den Ausstellungsraum, dazwischen klafft ein weiteres Loch oder eine lange Spitze ragt wie eine bedrohliche Nase hervor. Es entsteht der Eindruck von Masken, die ihrem Träger nicht zur Verhüllung, sondern auch als kriegerisches Visier dienen können.
Womöglich handelt es sich dabei um Personifikationen eines Upiór oder um Schutzmasken, die das Wesen abwehren sollen. Dieser im Titel der Ausstellung angeführte „Upiór“ ist ein dämonisches Wesen, das vor allem Nachts aktiv wird. Der Begriff entstammt alten slawischen Volkserzählungen und beschreibt einen Wiedergänger, der vergleichbar einem Vampir sein Unwesen treibt und Unheil bringt. Der Upiór ist weder tot noch lebendig, weder Mensch noch Geist.
Auch die unter diesem Begriff in der Ausstellung subsumierten Arbeiten vereinen vermeintlich Gegensätzliches: Die gezeigten Objekte sind zugleich organisch und konstruiert, wirken antropomorph und mechanisch, kontrolliert und bedrohlich zugleich.
In den bei Sentiment gezeigten Arbeiten treten Objekt und Beschreibung, Wissenschaft und Volkserzählungen in enge Verbindung. Seltsame Vorkommnisse, unwirklich scheinende Phänomene und die Frage nach der Konstitution von Realität überschneiden sich. Gawęda und Kulbokaitė setzen sich mit der Merkwürdigkeit unserer Welt und ihrer Wahrnehmung auseinander. Mit ihren Arbeiten hinterfragen sie unsere Zugangsweise zur materialen Realität.
WANN: Die Ausstellung „Upiór“ läuft bis Samstag, den 21. Oktober.
WO: Sentiment, Murwiesenstrasse 45, 8057 Zürich.