Fragmente der Verletzung Tolia Astakhishvilis "The First Finger" im Haus am Waldsee
30. Juni 2023 • Text von Lara Brörken
Fast fertig oder halb zerfallen? Verwundet oder beinahe geheilt? Das sind Fragen, die Tolia Astakhishvili mit ihrer Einzelausstellung “The First Finger (chapter II)” in die Räume des Hauses am Waldsee einziehen lässt. Geschichten von Menschen, die hier wohnten, scheinen in den Ecken zu lauern. Multimedial und raumgreifend schaffen Astakhishvilis Arbeiten gleichermaßen ein Gefühl von Geborgenheit, Unsicherheit und Bedrohung.
Besucher*innen stehen in einem dunklen Raum, in dem ein braun beschmiertes Fenster glüht. Das Licht, das hinter der Plexiglasscheibe leuchtet, bringt eingeritzte Formen von Körperteilen zum Vorschein, die auf einen Überlebenskampf verweisen sollen. In einer Höhle eingeschlossen, sich mit Tic-Tac-Toe die Zeit und Angst vertreibend, scheinen sich Menschen in diesen Zeichnungen überlegt zu haben, auf welche Gliedmaßen sie verzichten könnten, um ihr Leben zu retten, wie sie ihren Torso und Kopf heile aus dieser Beklemmung befreien könnten. Der titelgebende erste Finger, dann Arme und Beine wären entbehrlich. Unmittelbar wird spürbar, dass Besucher*innen sich mit Tolia Astakhishvilis “The First Finger” im Haus am Waldsee auf Spurensuche begeben, dass sie Geschichten aus ihren Arbeiten herauslesen sollen.
Aus dem Dunkel heraustretend ergibt sich im tageslichtdurchfluteten, großzügigen Wohnraum des einstigen Wohnhauses der erste starke Kontrast. Blinzelnd muss sich an die Helligkeit, die Freundlichkeit und Zartheit der neuen Umgebung gewöhnt werden. Leinwände lehnen an den weißen Wänden, auf denen sich rosa, weiße und hellgraue Farbbahnen ziehen und umschlingen, davor liegt ein Fußball. Kindheit, Verspieltheit und Leichtigkeit sind hier die Themen.
Nur wenige Schritte weiter dann ein Chaos im Wintergarten. Auf dem Boden liegen zerstückelte Schläuche, Bierkrüge und Schnapsgläser stehen herum. Auf der Fensterbank sitzt ein Säugetier, ihm fehlen die Ohren, es wirkt nackt und ist mager. In einer Plastikkiste auf dem Boden liegt sein Schenkel. Das Wesen erinnert an einen Thestral, die Tiere in Hogwarts, die nur von Personen gesehen werden können, die schon mal jemanden anderes haben sterben sehen. Was ist hier vorgefallen? Ist das hier ein Tatort?
Teile einer Art Fechtanzug liegen auf dem Boden, daneben Kisten mit künstlichen Tannenzweigen und einer Dartscheibe. Gab es ein Fest? In dem Aktenschrank voller Ordner leuchtet eine kleine Miniaturarchitektur, ein kahler kleiner Raumabschnitt mit Minifeuerlöscher, Sichtbeton und einer Aufzugtür. Unheimlich und überstürzt verlassen ist es hier. Besucher*innen fühlen sich, als seien sie Zeugen einer ungewissen Tat, die ihnen möglicherweise sogar unbekannte Opfer forderte.
Wie auch die Collage an der Wand setzt sich alles aus kleinen und großen Teilen zusammen und ergibt ein Bild, ein Raumgefühl, das immer etwas unstimmig bleibt. Es entschlüsselt sich nicht gänzlich, jedes Teil bleibt ein geheimnisvoller Hinweis. An der Installation “The First Finger (wintergarden)” arbeitete Astakhishvili kooperativ mit Andreas Rousounelis, Giorgi Zhorzholiani und Dylan Peirce. Die verschiedenen mitwirkenden Hände, ihre Stile schneiden den roten Faden, den Besucher*innen kurzzeitig zu erkennen glauben immer wieder durch. So schwingt diese Raumcollage zwischen Büro, Feierresten, Dekoartikeln sowie untoten Tieren hin und her und lässt einen ratlos, gar ein wenig schaudernd zurück.
Durch kleine Eingriffe, wie eine abgerundete, nass und etwas gammelig wirkende Raumecke, Wellblech, eingefügten Fenstern, abgedunkelten Fenstern oder eingezogenen Wänden, schafft Astakhishvili ein ganz anderes Haus am Waldsee. Es ist gerade im scheinbaren Umbau teilweise marode, sein Grundriss ist ein anderer, geprägt von engen Fluren, gar Schluchten, die sich öffnen, aber nur vage aufhellen. Das Licht dringt nur herein, wo es darf, es ist rar, wird zurückgehalten, wie die guten Momente einer dysfunktionalen Familienhistorie. Kühl scheint es zu sein, selbst wenn der Sommer die Hitze hereindrückt. Auf dem Boden stehen abgebrannte Feuerwerkskörper.
Gemeinsam mit James Richards entstand die Videoarbeit “I Remember (Depth of Flattend Cruelty)”. Sie wird in einem abgetrennten, dunklen Raum im Loop gezeigt. Ein drahtiger Mülleimer steht neben den aufgereihten Stühlen, auf denen Besucher*innen Platz nehmen sollen. In ihm steht ein ebenso drahtiges, kegelartiges Gebilde. Nicht selten ist etwas zu sehen, dessen irritierende Anwesenheit einfach akzeptiert werden muss, ebenso im Video. Bilder überlappen, Badende stehen im Meer und kahle Kellerräume, in denen eine kleine Glotze flimmert, erinnern an Entführungsszenarien der fiesesten Skandi-Thriller. Molly Drakes Stimme klirrt durch die tendenziell unheimlich einsamen Frequenzen, “and I remember firelight and you remember smoke“.
Das, was war das, was noch kommt, das, was gut war oder auch schlecht, all das fusioniert in den scheinbar zusammenhangslosen Bildern, die sich nur im Grad der Beklemmung, die sie auslösen, absolut einig sind. Die Perspektiven kippen, Räume wölben sich, schaffen schwindelerregende Bodenlosigkeit und eine hölzerne Treppe verbiegt sich – ein Horrorfilm? Irgendwie schon, aber einer mit Tiefgang, einer, dessen Grausamkeit, wie der Titel schon sagt, eine Fläche spannt wie eine gemütliche Wolldecke, die ein tiefes Loch unter sich versteckt. Ein ständig drohender Fall.
In der oberen Etage scheint das einfallende Licht den Baustaub in der Luft zu enttarnen. Es wirkt nebelig in Konstruktion. Deutet das architektonische Modell vor dem milchigen Fenster, das wie ein Raster gleichförmig, geometrisch und kastig unbewohnbar wie ein Parkhaus scheint, an, auf welche Zukunft wir zusteuern? Gemeinsam mit ihrem Vater Zurab Astakhishvili zeigt Tolia Astakhishvili mit dem Modell eine dystopische Wohnwelt, die wie ein Käfig wirkt.
Ein silbrig schillerndes Trapezblech begrenzt einen unbegehbaren Raum, den die Audioinstallation “I have no constraints, only limit is me” umgibt. Es rauscht, hämmert, etwas fällt zu Boden, Maschinen schleifen, es knirscht und kratzt. Eine akustische Baustelle, ein unsichtbarer Prozess des Auf- oder Abbauens, des Schaffens oder aus der Welt schaffen.
In Zusammenarbeit mit Zurab Astakhishvili, Dylan Peirce und James Richards sowie Beiträge von Antonin Artaud, Alvin Baltrop, Kirsty Bell, Nat Marcus, Vera Palme, Andreas Rousounelis, Judith Scott, Ser Serpas und Giorgi Zhorzholiani hat Tolia Astakhishvili einen Erfahrungsraum geschaffen, einen Raum, der an den Grenzen des Angenehmen wandelt, der aneckt, der halb fertig scheint und seine düsteren wie verspielten Seiten zeigt. Wie ein Eindringling können Besucher*innen mit “The First Finger” in eine angeknackste Welt vordringen, ein Haus am Waldsee, das von fremden Lebenskämpfen und Lebensfeiern erzählt.
WANN: Die Ausstellung “The First Finger (chapter II)” läuft noch bis Sonntag, den 24. September. Im Bonner Kunstverein ist “The First Finger (chapter I)” noch bis Sonntag, den 30. Juli zu sehen.
WO: Haus am Waldsee e.V., Argentinische Allee 30, 14163 Berlin.