Mit der Modellbahn zu den Leichen im Keller
Nicholas Warburg im Kunstraum Potsdam

2. Oktober 2023 • Text von

In Potsdam lädt der Künstler Nicholas Warburg dazu ein, in seinem Grandhotel Abgrund zu residieren. Statt einer Wohlfühloase bietet die versprochene Vollpension dort ein Potpourri des Deutschtums samt Konfrontation mit unbequemen Wahrheiten und verdrängter Schuld.

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Nicholas Warburg “Grand Hotel Abgrund, Vollpension”, Kunstraum Potsdam, 2023. Foto: Michael Lüder.

Als die Protagonisten der Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno 1949 aus dem amerikanischen Exil in die junge Bundesrepublik zurückgekehrten, wollten sie so gar nicht in die um sich greifende Aufbruchs- und Wirtschaftswunder-Stimmung kommen, in der Buttercremetorte fragende Münder stopfte und der erste Italienurlaub die kollektive Schuld auch mal vergessen ließ. Stattdessen übten sie sich in beständiger Rückschau und Kulturpessimismus.

Etwas später, Anfang der 60er-Jahre betitelte der ungarische Philosoph Georg Lukács diese Haltung und Position durchaus despektierlich als „Grand Hotel Abgrund“. Gemeint war ein dunkler Ort, an dem man die Verbrechen des Nationalsozialismus und ihr Nachwirken auf die Gegenwart nicht vergessen konnte und wollte, an den aber bald schon mehr Anhänger folgen sollten: von den 68er Suhrkamp- und Merve-Jüngern bis zu Rainer Werner Fassbinder und Martin Kippenberger – ein Lager, das schließlich sogar ein eigenes, von Philipp Felsch und Frank Witzel „BRD Noir“ getauftes Genre gebar.

Diese Bundesrepublik zwischen Wohlstand und Verbrechen, das Land der Profiteure und ihrer Kritiker sperrt der 1992 in Frankfurt am Main geborene Nicholas Warburg nun im Kunstraum Potsdam in seine gleichnamige, ganz eigene Hotelinszenierung und spielt den Ball so gekonnt an Lukács zurück. Mit seiner Ausstellung „Grand Hotel Abgrund Vollpension“ übersetzt er den Mief der Nachkriegs-BRD in all ihren Facetten und Gräuel ins Jetzt – nur Normalität darf hier nicht einkehren.

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Nicholas Warburg “Grand Hotel Abgrund, Vollpension”, Kunstraum Potsdam, 2023. Foto: Michael Lüder.

Warburgs Szenografie verwandelt die Ausstellungsräume konsequent in Hotellobby, Schlaf- und Badezimmer. Schon im Eingangsbereich wird klar, erholsam wird dieser Aufenthalt nicht. Trotz allerlei rustikalem Holz, Nostalgie-Flair und Pastellfarben, die aus dem Badezimmer nebenan blitzen, mag keine Gemütlichkeit aufkommen. Die drei in feinster Hotellobby-Manier installierten Uhren verweisen nicht etwa auf die Uhrzeiten in New York und Shanghai, sie leiten die Zeitreise in die alte Bundesrepublik und zu ihren Moraldebakeln ein.

So dreht sich bei einer „Ich wiederhole, mein Ehrenwort“ getauften Arbeit statt eines Uhrzeigers ein hölzernes Kreuz. Warburg hat sich beim Titel des Werks an den berühmten letzten Worten Uwe Barschels bedient – dessen Schicksal wird Besucher*innen an anderer Stelle noch schonungsloser begegnen. Direkt daneben zeigt ein aus einer Baumscheibe gefertigtes Ziffernblatt statt Zahlen ganz im Sinne Martin Heideggers nur das Wort „Sein“ an, wohlgemerkt in Frakturschrift. Im 15-minütigen Takt lässt eine altvertraute Tagesschau-Uhr ihren Gong erklingen. 

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Nicholas Warburg “Grand Hotel Abgrund, Vollpension”, Kunstraum Potsdam, 2023. Foto: Michael Lüder.

Bei dem Gemälde „Stahlbad“ schräg gegenüber kommt nun erneut Adorno ins Spiel. Seine Konsumkritik kulminierte im Satz „Fun ist ein Stahlbad”. Spaß, vor allem aber seiner Kommerzialisierung in der Vergnügungs- und Kulturindustrie, misstraute er grundsätzlich. Ähnlich pessimistisch gibt sich Warburg, der in den rustikalen Holzrahmen die Inschrift „Wir: IIII / Sie: IIIII II“ geritzt hat. Auf dem Bild selbst stehen ein Mann und eine Frau vor einem mutmaßlichen Hotel, das eben diesen Namen „Stahlbad“ trägt.

Die Arbeit lässt auch an eine Aktion des Künstler*innenkollektivs Frankfurter Hauptschule denken, das die Liebe zu Adorno und zur Provokation bereits im Namen trägt und dessen Gründungsmitglied Nicholas Warburg ist. Viel besprochen ist der vor nicht allzu langer Zeit fingierte Diebstahl der Beuysschen Capri-Batterie mit anschließender Restitution. Berühmt-berüchtigt ist auch die Heroin-Performance von 2015. Ein Jahr später rief die Gruppe mit ihrer Aktion „Stahlbad ist 1 Fun“ öffentlich zum Entfernen der Liebesschlösser am Frankfurter Eisernen Steg auf.

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Nicholas Warburg “Grand Hotel Abgrund, Vollpension”, Kunstraum Potsdam, 2023. Fotos: Michael Lüder.

Den Hang zu Provokation, das wird schnell klar, behält Warburg auch in seiner Einzelausstellung bei, mischt munter Konsumkultur mit Intellektualität, Profanes mit Politik. Auch im Schlafzimmer werden in Bildsprache und Titeln Referenzen aller Art verbunden, wird sich nicht vor Plattitüden und Klischees gescheut. Im Zentrum: ein gigantisches Holzbett, Titel: „Republican Beds“.

Die Besucherritze zeichnet die innerdeutsche Grenze nach, am Kopfende zeigt ein düsteres, an Kippenberger angelehntes Gemälde unter dem prominenten Logo der Fernsehsendung „Aktenzeichen XY … ungelöst“ die Berliner Skyline bei Nacht. Bei genauerer Betrachtung erkennt man in der dunklen Silhouette das im Zweiten Weltkrieg zerbombte Dach der Gedächtniskirche. „Auch dies ein Verbrechen ohne Täter?“, meint man Warburg fragen zu hören. Auf dem Nachttisch bringt das in eine Ausgabe von Heideggers „Sein und Zeit“ eingelassenes Flutschfinger-Eis „Lecki“ zusammen, was so oft nicht zusammen geht: Banalität und Akademismus, Kommerz und Theorie.

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Nicholas Warburg “Grand Hotel Abgrund, Vollpension”, Kunstraum Potsdam, 2023. Foto: Michael Lüder.

Gegenüber hängt ein bekanntes Sujet in Öl: der Tag des Mauerfalls, feiernde Menschen auf der Mauer vorm Brandenburger Tor, wehende deutsche Fahnen, Feuerwerk. Nur ein Detail ist neu – klein, aber groß genug für eine gehörige Kontextverschiebung. In den Holzrahmen ist die Zahl 1945 geritzt. Fragen schießen durch den Kopf: Was bedeutet die Wiedervereinigung für das Wiedererstarken des deutschen Patriotismus? Hätte man das Ende des Faschismus ähnlich triumphal zelebrieren können, ohne die eigene Schuld zu negieren? Tag der Befreiung oder der Niederlage?

Unmittelbar neben dem Gemälde treibt eine auf dem Boden platzierte Globus-Minibar, deren Nord- und Südhalbkugeln jeweils halbseitig mit den Logos von Aldi Nord und Aldi Süd und bedruckt sind, das deutsch-deutsche Fest schließlich auf die Spitze. Die Polemik, sie scheint Warburgs Komplizin.

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Nicholas Warburg “Grand Hotel Abgrund, Vollpension”, Kunstraum Potsdam, 2023. Fotos: Michael Lüder.

Hotelzimmer können verschiedene Konnotationen haben: Anonymität, Tristesse und Einsamkeit, Urlaub und Komfort, Luxus und Spesen, Kapitalismus und Privatisierung, Arbeit oder Freizeit. Sicher aber sind sie Orte, an denen man den eigenen Gedanken schlecht entkommt, mitunter mit sich selbst konfrontiert wird. Nicholas Warburgs Werk ist nicht nur diese individuelle und kollektive Konfrontation, sondern auch das Hotelzimmer immanent.

Bereits 2020, zu Beginn der Corona-Pandemie, begab sich der Künstler in keinem geringerem als dem Frankfurter Steigenberger Hotel in selbst verordnete zehntägige Isolation und dokumentierte – wieder ein Kippenberger Zitat – Erleben und Erkenntnisse auf Hotelpapier. Auch wenn das Grand Hotel Abgrund nicht mit dem Steigenberger Komfort aufwarten kann, scheint Warburg dieses Prinzip nun allgemein zugänglich machen zu wollen. Die Devise: Konfrontationstherapie mit der Vergangenheit für alle.

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Nicholas Warburg “Grand Hotel Abgrund, Vollpension”, Kunstraum Potsdam, 2023. Fotos: Michael Lüder.

So wird die Stimmung der Ausstellungsdramaturgie ins Badezimmer folgend augenblicklich ernster. Ein bedrückendes Gefühl umgibt sterile Armaturen. Über den Boden verteilt liegen Schuhe, die sich um die Ecke zu einem Haufen versammeln. Auf einem Spiegel, in dem man beim Betreten unweigerlich das eigene Spiegelbild erkennt, steht mit Lippenstift geschrieben: „Es sei dir vergeben“. In den Rahmen sind Goldzähne eingelassen. Sie erinnern daran, wie sich Nazis am Zahngold derer bereicherten, die sie ermordet hatten.

Daneben hat Warburg eine Badewanne positioniert. Die Fliesen und der halb zugezogene Duschvorhang mimen jene Wanne, in der Uwe Barschel 1987 tot aufgefunden wurde. Nach der Verwicklung in einen Politskandal und dessen Bekanntwerden war er von seinem Posten als Ministerpräsident von Schleswig-Holstein zurückgetreten. Wenige Tage später fand man ihn leblos in einem Genfer Hotelzimmer. Die Fotografie des Tatorts, die damals den Stern-Titel schmückte, trug zur Mystifizierung und etlichen Verschwörungen um den nie gänzlich geklärten Fall bei. Thomas Demand bastelte das schicksalsträchtige Badezimmer des Hotel Beau Rivage bereits 1997 akribisch aus Pappe nach. Nicholas Warburg übt sich nun eher in Zynismus als in Detailtreue. Statt eines Leichnams in der Wanne: eine Modelleisenbahn, die unentwegt im Kreis fährt.

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Nicholas Warburg “Grand Hotel Abgrund, Vollpension”, Kunstraum Potsdam, 2023. Foto: Michael Lüder.

Derlei Vermischung geschichtlicher Ereignisse kann man durchaus geschmacklos finden. Insbesondere wenn es sich dabei um jene handelt, deren Singularität zu behaupten und zu schützen nicht nur Adorno angetreten ist. Die Unvergleichbarkeit der Shoah ist Grundlage unserer Gesellschaft und ihrer Diskurse. Allerdings geht es Warburg wohl nicht um Schuldabwehr oder Geschichtsrevisionismus, ganz im Gegenteil.

Die harsche Gegenüberstellung rekurriert eher auf die deutsche diskursive Gewichtung des Barschel-Mordes im Vergleich zur Sprachlosigkeit gegenüber dem eigenen Zivilisationsbruch. Nicholas Warburg, so scheint es, will diese Stille um jeden Preis brechen, deutsche Gemütlichkeit ade. Dafür sind dem Künstler alle Wege recht: Elemente des Horrors avancieren zu strategischen Mitteln, die das Augenverschließen unmöglich machen, und Tabubrüche werden auf dem Silbertablett serviert. Das schockt – ob es zu mehr Selbstreflexion führt, sei mal dahingestellt. Eins aber ist sicher: Ruhig schläft man im Grand Hotel Abgrund nicht.

WANN: Die Ausstellung „Grand Hotel Abgrund, Vollpension“ von Nicholas Warburg läuft bis Sonntag, den 15. Oktober.
WO: Kunstraum Potsdam, Schiffbauergasse 4D, 14467 Potsdam.

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