An der langen Leine Nicholas Warburg in der Galerie Anton Janizewski
17. Dezember 2020 • Text von Lynn Kühl
Nicholas Warburg hat sein Studium an der Frankfurter Städelschule beendet. Als Abschlussgeschenk stellt er sich selbst ein Zeugnis aus und gönnt sich sowohl einen Blick in die Vergangenheit als auch ein Resümee über institutionelle Wichtigkeit.
Gemäß Wikipedia wird der Begriff „Institution“ folgendermaßen definiert: „Eine Institution ist ein Regelsystem, das eine bestimmte soziale Ordnung hervorruft.“ Dies gilt für bewusste oder ungeplante Formen menschlicher Beziehungen, die in einer Gesellschaft erzwungen oder von allen getragen sowie gelebt werden. Weiter wird beschrieben, dass Institutionen ihre Wirkung über Anreize wie inhaltliche Vorgaben und Sanktionen entfalten und auf diese Weise ermöglichen, dass Erwartungen, Entscheidungen und Handlungen von Individuen beeinflusst werden. Je absoluter und strikter dieses Regelnetz ist, desto stärker kippen Institutionen in die Kategorie „total“.
Während ich über Nicholas Warburg Ausstellung „Graduating Slytherin“ in der Galerie Anton Janizewski nachdenke, frage ich mich, wie sehr Menschen Institutionen und ihre Anreize wohl brauchen, und ob es Genuss hervorbringen kann, sich in strenge Regelnetze hineinzulegen, ob womöglich etwas fehlt, wenn die „Leine zu lang gelassen“ wird.
Warburg hat kürzlich sein Studium an der Städelschule in Frankfurt beendet und sich dafür sein eigenes Diplom gemalt. Er hätte sonst keins bekommen, denn die Fakultät misst den Freiräumen der Studierenden einen höheren Wert bei als dem offiziellen Abschluss. Mir fällt eins meiner Familienmitglieder ein, das nicht müde wird, die Ausbildung der Personen zu erwähnen, über die gesprochen wird. XY ist ein hoch ausgebildeter blablabla, denn er war auf Eliteschule soundso. ABC wiederrum wurde in 0815 ausgebildet und da ist es ja kein Wunder, dass sie so gut bezahlt wird. Mit jeder Nennung einer großen Institution wachsen die Erzählfiguren um einen halben Zentimeter.
Problematischerweise sind diese Aussagen nicht nur störend, sondern erzeugen gleichzeitig Begehrlichkeiten. Getrieben von einer merkwürdigen Kraft, machte ich einen Bachelor of Laws an der sogenannten Exzellenzuni TU Dresden. Leider steht das TU für Technische Universität, sodass die Informatikfakultät von innen aussah wie ein Starbucks während Geistes- und Kulturwissenschaften in schmuddeligen trailerparkähnlichen Wohnwagen unterrichtet wurden. Zur Elite der TU Dresden gehörten wir nicht, erwähne ich aber irgendwo das halbe Jurastudium, entlockt dies häufig ein sanftes „Ohh“. Gesellschaften kreieren ihre Institutionen selber und erschaffen so Ordnungssysteme. Aber nach welchem Muster wählen sie aus?
Die Städelschule ist als Institution bekannt. Siebzig Prozent der Studierenden kommen aus dem Ausland, Englisch ist Lingua franca und die Kunsthochschule hat nur 150 Studienplätze. 30 neue werden jährlich vergeben, auf die sich knapp tausend Interessierte bewerben. Einst als Provinzinstitution verschrien, entwickelte sich ihre gesellschaftliche Relevanz parallel zu den großen Namen der Lehrkörper. Auch Personen können Institutionen sein, weniger per Definition, aber mehr aus reinem Sprachgebrauch. Er ist eine Institution, ein Prunkstück seiner Art, ein nicht wegzudenkendes Monument in der Geschichte der Welt.
Obwohl die Städelschule international als laissez-fair bekannt ist und Räume der Freiheit an erster Stelle sieht, so entwickelte sich doch innerhalb der Strukturen eine eigene Hackordnung. Der Konkurrenzdruck ist hoch, es gibt Neid und Angst. Ich bezweifle eigentlich, dass dies an einem „zu viel an Freiheit“ liegt, ganz sicher bin ich aber nicht, deshalb schaue ich nochmal auf Wikipedia. Dort steht „… auf der anderen Seite bergen Prozesse der ‚Deinstitutionalisierung‘, wie solche in gesellschaftlichen Wandlungsphasen, Risiken des Rückfalls in riskantes, rücksichtsloses und nur auf Durchsetzung der Eigenwünsche bedachtes Verhalten. Das Institutionsvertrauen ist ein Gradmesser für die Stabilität eines politischen Systems.“ Ich bin froh, dass Nicholas Warburg sich noch ein Zeugnis gemalt hat. Denn: Institutionen bieten Stabilität, und Stabilität gibt Sicherheit. Und Sicherheit tut scheinbar gut, oder?
WANN: Die Ausstellung kann noch bis Sonntag, den 31. Januar, besichtigt werden.
WO: Galerie Anton Janizewski, Goethestraße 69, 10625 Berlin.