Die Leere füllen Mark Wallinger bei Fabian Lang
17. Oktober 2023 • Text von Anja Grossmann
Mit „Arcadia“ zeigt die Zürcher Galerie Fabian Lang aktuelle Arbeiten von Mark Wallinger. Zu sehen sind Fotografien und Filmaufnahmen von London während der Pandemie 2020. Der gezeigte öffentliche Raum ist leer und verlassen. Den Galerieraum hingegen füllt Wallinger mit beweglichen Skulpturen. Sie drehen sich um die eigene Achse und lächeln den Besucher*innen von allen Seiten entgegen.
Zwei rote Doppeldeckerbusse fahren an einer haushohen Werbefassade vorbei. Üblicherweise sind sie mit Touristen gefüllt, die sich auf den vielbefahrenen Straßen Londons von einer Sehenswürdigkeit zur anderen fahren lassen. Diese Busse sind leer. Irritierenderweise erscheint eines der Fahrzeuge wie abgeschnitten. Die Abbruchkante weist sich überlagernde Pixelwerte auf. Es wirkt als würde der Bus von einem dunklen Wurmloch verschluckt. Die Werbetafel darüber verkündigt: „Stay Home. Protect the NHS. Save Lives“, in der deutschen Übersetzung: „Bleiben Sie zuhause. Schützen Sie den staatlichen Gesundheitsdienst. Retten Sie Leben.“
Mark Wallinger fertigt die Fotografie am 13. April 2020 in London an. Die Covid-19 Pandemie hatte in diesem Frühjahr das erste Mal zu staatlich verordneten Ausgangssperren geführt. Wallinger lief durch die Straßen unweit seiner Wohnung in Soho und fotografierte den öffentlichen Raum mit seiner Handykamera. Es entstanden Fotografien unter anderem von der Oxford Street, der National Gallery, des Trafalgar Square.
Die sonst von Menschenmassen bevölkerten Orte zeigen sich leer. Nur vereinzelt sind Personen, zumeist auf dem Fahrrad, zu sehen. Die Verlassenheit der üblicherweise so belebten Metropole spricht deutlich aus den Aufnahmen der urbanen Knotenpunkte im Lockdown.
Wallinger nutzt den Panorama-Modus seines Smartphones zum Anfertigen der Fotografien, die er unter dem Titel „Panorama 2020“ bei Fabian Lang zeigt. Die titelgebende Kameraeinstellung ermöglichte es ihm mehrere aneinandergereihter Aufnahmemomente in einem Bild miteinander zu verbinden. Durch die spezifischen Kombinationen entstehen Verzerrungen und Überlagerungen. Das Ergebnis sind surreal anmutende Abzüge.
Wallingers Arbeiten zeigen einen zweigeteilten Bus, verschwindende Personen oder vermeintlich endlose Reihungen architektonischer Elemente. Die Fassade des British Museum erscheint breitgezogen hinter sich überlagernden Stäben wie hinter Gittern. Ein Passant mit schwarzer Steppjacke löst sich beim Überqueren der Straße auf. Seine Beine sind kaum noch zu erkennen. Dabei wirft er einen von dieser Verzerrung unbeeinträchtigten Schatten auf den Asphalt.
In der Zweikanal-Videoinstallation „Arcadia“ reihen sich gespiegelte Variationen von vergleichbaren Videoaufnahmen aneinander. Hier scheinen ganze Straßenzüge miteinander zu kollidieren. Es entsteht ein Kaleidoskop aus verlassenen Orten urbanen Lebens.
Den Zürcher Galerieraum füllt Wallinger mit Skulpturen, die wie aus den Aufnahmen Londons gefallen zu sein scheinen. Es handelt sich um lebensgroße Nachbildungen von Passanten, die aus je zwei Fotoabzügen auf PVC Schaumplatten bestehen. Wallinger bedruckt die Platten beidseitig und verbindet sie mittig miteinander. Sie hängen an transparenten Nylonschnüren von der Decke und drehen sich unablässig um die eigene Achse. Auf den ersten Blick erscheinen sie wie Galeriebesucher*innen. Tatsächlich handelt es sich um anthropomorphe Mobiles von bizarrer Symmetrie.
Eine junge Frau im blauen Kleid schaut lächelnd auf ihr Handy. Je nach Seitenansicht schielen ihre Augen zur Mitte oder sie hat einen doppelten Hinterkopf. Ein Mann in Schrittposition kommt mit seinen vier Beinen nicht vom Fleck. Eine junge Frau in heller Bluse lächelt unvermittelt mit vier Zahnreihen.
Humoristisch und unheimlich zugleich wirken diese Figuren. Strahlend Lächelnd, leger gekleidet und gerade irgendwohin unterwegs, könnten sie in London aufgenommen worden sein. Tatsächlich entnimmt Wallinger ihre Fotografien aus Online-Bildagenturen. Es handelt sich um anonyme Personen, die als Identifikationsfiguren oder Assoziationsflächen dienen. In Wallingers Arbeit bewegen sie sich neben fotografischen Aufnahmen einer verlassenen Zeit. Sie kommen dem Bedürfnis entgegen den 2020 erfahrenen, leeren Raum zu füllen.
WANN: Die Ausstellung „Arcadia“ läuft bis Samstag, den 18. November.
WO: Galerie Fabian Lang, Obere Zäune 12, 8001 Zürich.