Wahrnehmung des Nichts
Yen Chun Lin und Tanja Nis-Hansen in der Galerie im Turm

18. Januar 2024 • Text von

Künstlerinnen werden zu Forscherinnen: Im Rahmen der Ausstellungsreihe “Schwindel. (Außer)irdische Weltenentwürfe zwischen Realität und Fiktion” zeigt die Galerie im Turm in der Ausstellung “Dort, wo das Nichts ist” Arbeiten von Yen Chun Lin und Tanja Nis-Hansen, die dem geheimnisvollen Schwarzen Loch visuell und akustisch auf den Grund gehen. Eine Ausstellung, die zum Verweilen, zum genauen Hinhören und -schauen einlädt.

Galerie im Turm Dort wo das Nichts is gallerytalk
Yen Chun Lin und Tanja Nis-Hansen, Ausstellungsansicht, Dort, wo das Nichts ist, Galerie im Turm, 7.12.23–4.2.24, Foto: Juan Saez.

Schwarze Löcher versammeln eine gewaltige Masse konzentriert in einem unendlich kleinen Punkt. Sie setzen die herkömmlichen Gesetze der Physik außer Kraft und sind von den Wissenschaftler*innen bis heute noch nicht vollständig erforscht. Schwarze Löcher lassen uns mit vielen Fragezeichen zurück. Was in ihnen vor sich geht, übersteigt die menschliche Vorstellungskraft. Dennoch üben sie eine enorme Faszination auf die Menschen aus – nicht nur in der Naturwissenschaft.

In der von Johanna Janssen kuratierten Ausstellung “Dort, wo das Nichts ist” in der Galerie im Turm beschäftigen sich die Künstlerinnen Yen Chun Lin und Tanja Nis-Hansen mit dem scheinbar Unerreichbaren – dem Schwarzen Loch, dem sie mit künstlerischen Mitteln versuchen, Ausdruck verleihen. In einer Soundarbeit sowie einem großen gemalten Schwarzen Loch, das von der Decke des Ausstellungsraumes über den Betrachter*innen hängt, wird dem Publikum ein Angebot zur Wahrnehmung eines Phönomens gemacht, das sonst kaum sichtbar oder räumlich zu verorten ist. Auf dem Boden Platz nehmen, hinsehen, zuhören.

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Yen Chun Lin, Stranded Debris, 2023, Ausstellungsansicht, Dort, wo das Nichts ist, Galerie im Turm, 7.12.23–4.2.24, Foto: Juan Saez. / Yen Chun Lin und Tanja Nis-Hansen, Ausstellungsansicht, Dort, wo das Nichts ist, Galerie im Turm, 7.12.23–4.2.24, Foto: Juan Saez.

Dies ist die dritte Ausstellung der Reihe “Schwindel. (Außer)irdische Weltenentwürfe zwischen Realität und Fiktion”, die sich mit der Erde als Zentrum des Kosmos und der menschlichen Wahrnehmung auseinandersetzt und künstlerische Antworten auf komplexe naturwissenschaftliche Prozesse anbietet. Zwei weitere Ausstellungen werden in diesem Jahr noch folgen. Erstmals wurde 2015 die Kollision zweier Schwarzer Löcher anhand ihrer Gravitationswellen gemessen und in für uns hörbare Töne übersetzt, die sich so ähnlich anhören, als würde ein Schlauch Luft ansaugen. Im April 2019 wurde das erste Bild eines Schwarzen Lochs veröffentlicht. Zustande gekommen ist die Aufnahme mithilfe von 8 Teleskopen von Event Horizon Telescope, die rund um die Erde im Weltraum platziert wurden. Ein wissenschaftlicher Meilenstein, vergleichbar mit dem “Earthrise”-Foto von 1968 – einer Weltraumaufnahme der Apollo 8-Mission, die die Oberfläche des Mondes zeigt. Die Entstehung eines Schwarzen Lochs ist eines der Rätsel des Universums, das seither immer wieder zum Thema in Forschung und Medien wird.

Wie wird ein Ort für den Menschen erfahrbar, der eigentlich “nichts” ist und einen Zustand irgendwo zwischen Realität und Fiktion beschreibt? Wie klingt etwas, das für den Menschen weder erreichbar noch greifbar ist? Fragen, auf die es keine eindeutigen Antworten gibt. Doch kein anderes Medium wäre dafür besser geeignet als die Kunst, deren Anspruch es nicht sein muss, die Wirklichkeit abzubilden. Künstlerische Annäherungen dürfen Vermutungen und eigene Interpretationen sein.

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Yen Chun Lin, Stranded Debris, 2023, Ausstellungsansicht, Dort, wo das Nichts ist, Galerie im Turm, 7.12.23–4.2.24, Foto: Juan Saez.

In ihrer 8-Kanal Soundinstallation “Stranded Debris” transformiert die Künstlerin Yen Chun Lin das Schwarze Loch in vielfältige Klänge. Zuhörer*innen können sich auf Matten im Ausstellungsraum niederlassen und Teil dieses Klangerlebnisses werden, das die Künstlerin basierend auf ihren eigenen Recherchen erschaffen hat. In ihrer Praxis beschäftigt sie sich mit unerklärlichen Naturphänomenen, die sie in immersive Klanglandschaften einbettet. In der Galerie im Turm sind Lautsprecher und Absorber verteilt, die in einer 38-minütigen Endlosschleife ein mal lauteres, mal leiseres Grundrauschen mit einzelnen schillernden Klängen vermitteln. Begleitet wird das Hörerlebnis von den Geräuschen des Ausstellungsortes – die stark befahrene Straße und der turbulente Verkehr laufen ständig mit als stete Vergewisserung, sich im Hier und Jetzt zu befinden. Die Sinneseindrücke vermischen sich.

Wandert der Blick nach oben zur Decke der Galerie, so blickt man direkt auf die große Arbeit “The biggest mystery in the universe II” von Tanja Nis-Hansen – ein Schwarzes Loch, das mit kreisenden Blicken erfasst werden kann. Eingerahmt wird das Loch von einer eigenen Textzeile der Künstlerin: “As tidal forces exceed the elastic limits oft he body it will snap apart at the weakest point probably just above the hip” (“Wenn die Kräfte die Elastizitätsgrenzen des Körpers überschreiten, wird er an der schwächsten Stelle, wahrscheinlich knapp über der Hüfte, auseinanderbrechen”). Die tänzelnden Buchstaben innerhalb des Schwarzen Lochs verweisen auf das Gedicht “A Substance in a Cushion” der Schriftstellerin, Verlegerin und Kunstsammlerin Gertrude Stein. In ihrer Praxis setzt Tanja Nis-Hansen Text gezielt ein, um die Zerrissenheit der menschlichen Psyche und ihrer Reaktionen auszudrücken.

In “Dort, wo das Nichts ist” werden die beiden Künstlerinnen zu Forscherinnen eines komplexen und unbegreiflichen Phänomens. Sie schaffen eine Umgebung, in der die Zeit still zu stehen scheint, während sie gleichzeitig weiterläuft. Das “Nichts”, das ein Schwarzes Loch als leeren Raum ohne Materie symbolisiert, nimmt in der Ausstellung eine vage Form an, die Yen Chun Lin und Tanja Nis-Hansen übersetzt und in eine Koexistenz in den Raum gebracht haben. Im Zusammenspiel mit dem Ausstellungsort erweitert sich das visuelle und akustische Erlebnis um eine weitere, undefinierte Ebene, auf die sie keinen Einfluss haben. Die Ausstellung erzeugt einen traumähnlichen Zustand der Entkörperlichung, ein rauschhaftes Schweben ohne klares Ziel.

WANN: Die Ausstellung “Dort, wo das Nichts ist” läuft noch bis Sonntag, den 4. Februar.
WO: Galerie im Turm, Frankfurter Tor 1, 10243 Berlin.

Am 26. Januar findet von 19 – 20 Uhr eine Performance von Franka Marlene Foth und am 27. Januar zwischen 16 – 18 Uhr eine Diskussionsrunde mit 0xSalon in der Ausstellung statt.

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