Fiktion als Realität als Fiktion
Christopher Kulendran Thomas in den KW

3. November 2022 • Text von

Die Realität als Konstrukt, das von Staaten aufrechterhalten wird? In den KW beschäftigt sich Christopher Kulendran Thomas mit dem Zusammenspiel von Technologie, Wahrheit und alternativer Geschichtsschreibung. Zudem erfahren Besucher*innen viel über die Geschichte Sri Lankas und die tamilische Unabhängigkeitsbewegung.

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Christopher Kulendran Thomas, The Finesse (2022), in Kollaboration mit Annika Kuhlmann; Filmstill

Wer sich erst wenig mit der Geschichte Sri Lankas beschäftigt hat, kriegt in den KW einen Crashkurs: Der gescheiterte revolutionäre Kampf um Tamil Eelam, ein unabhängiges Gebiet für die tamilische Bevölkerung des Landes, bildet den Ausgangspunkt der Ausstellung “Christopher Kulendran Thomas – Another World”. Während des von 1983 bis 2009 andauernden Bürgerkriegs beherrschten neo-marxistische Freiheitskämpfer*innen ein Gebiet im Nord-Osten Sri Lankas. Der niemals offiziell anerkannte Staat bildete ein so genanntes De-facto-Regime, in dem eigene Justiz-, Militär- und Verwaltungsinstitutionen existierten. Nach Ende des militärischen Konflikts wurde Tamil Eelam brutal aufgelöst und wieder unter die Kontrolle der sri-lankischen Regierung gestellt.

Die Befreiungsbewegung in der Heimat seiner Familie versucht Kulendran Thomas anhand der in den KW gezeigten Arbeiten zu dokumentieren und zu bewahren. Die Videoarbeit “The Finesse”, die im ersten Stock zu sehen ist, hat der Künstler gemeinsam mit Annika Kuhlmann konzipiert. Auf fünf gigantischen Bildschirmen sind Videosequenzen in schneller Abfolge zu sehen: Archivaufnahmen von Protestmärschen, Interviews, Szenen aus Natur, Politik und Popkultur. Zwischendurch tönt Musik aus den Lautsprechern, dann plötzlich spricht eine computergenerierte Version von Kim Kardashian über Tamil Eelam.

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Christopher Kulendran Thomas, The Finesse (2022), in Kollaboration mit Annika Kuhlmann; Filmstill

All diese Eindrücke verschwimmen zu einer dicken Soße aus Fiktion und Realität, die schwer bis gar nicht zu durchschauen ist. Durch die monolithischen Screens wirken die Szenen zusätzlich fragmentiert. Erschwerend kommt hinzu, dass ein Algorithmus Teile der Arbeit mit jedem Loop neu generiert. Dadurch verstärkt sich die ohnehin gegebene Verwirrung. Durch die hoffnungslose Vermengung von Archivaufnahmen und computergenerierter Pseudo-Realität wird deutlich, wie schnell Fiktion als Realität angesehen werden kann – und umgekehrt. Man darf zweifeln: Ist es überhaupt möglich, die Geschichte adäquat nachzuerzählen?

Ein Ziel der tamilischen Unabhängigkeitsbewegung war es, eine eigenständige kooperative Wirtschaft aufzubauen. Dazu gehörten erneuerbare Energien, geteilter Besitz und computergestützte Koordination. Die Architekturzeichnungen an den Wänden der KW zeigen eine modulare Bauweise, die sich durch flexible Elemente hervorhebt. Wie es aussieht, sind mit der Zerschlagung von Tamil Eelam neben Kunst, Architektur und Technologie auch eine Menge guter Ideen verloren gegangen.

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Christopher Kulendran Thomas, The Finesse (2022), in Kollaboration mit Annika Kuhlmann; Filmstill

Die Folgen des Bürgerkriegs im heutigen Sri Lanka dokumentiert eine neue Variation der 2019 entstandenen Videoarbeit “Being Human” in der zweiten Etage. Auch hier verschmelzen tatsächliche Erlebnisse und Statements realer Personen mit algorithmisch entworfenen Figuren, darunter Taylor Swift. Kulendran Thomas’ Onkel, der in Tamil Eelam ein Zentrum für Menschenrechte gegründet hat, ist ebenfalls mit von der Partie. Seit 2009 haben in der sri-lankischen Hauptstadt Colombo viele zeitgenössische Galerien eröffnet. Auch die Colombo Art Biennale wurde unmittelbar nach Ende des Krieges ins Leben gerufen.

Um die Kunst Tamil Eelams nicht vollkommen unsichtbar werden zu lassen, werden Keramiken von Aṇaṅkuperuntinaivarkal Inkaaleneraam ausgestellt, einem bedeutenden Kollektiv der tamilischen Unabhängigkeitsbewegung. Die ehemalige kreative Szene arbeitet heute als Discord-Gemeinschaft zusammen, um trotz der diasporischen Umstände gemeinsam Kunst zu machen. Die Ausstellung zeigt, wie schwierig es sein kann, die Vergangenheit in die Gegenwart zu tragen. Christopher Kulendran Thomas gelingt es, den Einfluss von Technologie auf die Geschichtsschreibung und unser heutiges Zusammenleben anschaulich zu präsentieren.

WANN: Die Ausstellung “Christopher Kulendran Thomas – Another World” läuft noch bis Sonntag, den 15. Januar 2023. 
WO: KW Berlin, Auguststraße 69, 10117 Berlin.

gallerytalk.net ist Medienpartner der KW.

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