Erinnerungen aus Glas
Esther Mathis in der Livie Gallery

29. September 2023 • Text von

Mit „Fenster“ zeigt die Zürcher Livie Gallery ihre zweite Ausstellung von Esther Mathis. Hochformatige Arbeiten aus farbigem Glas hängen an den Wänden des Galerieraums. Ihre Oberflächen weisen Perforationen, Sprenkel und Farbschlieren auf. Die erzeugten Lichtstimmungen entspringen Erinnerungen der Künstlerin. Es sind Fenster in die Vergangenheit eines kreativen Gedächtnisses.

Livie Gallery Esther Mathis Regen 1
Esther Mathis: Fenster, Regen 1, 2023. Mineral pigment fuid and glue on glas, 145 x 75 cm. Courtesy by Esther Mathis and Livie Gallery.

Sechs hellblaue Scheiben aus Glas hängen in einem Verbund an der Wand des Ausstellungsraums der Livie Gallery. Sie sind mit kleinen Metallhaken in einem Abstand von wenigen Zentimetern voneinander entfernt fixiert. Die Abstände zwischen den Reihen an hochformatigen Rechtecken heben sich optisch als weiße Linien von den blauen Glasflächen ab. Es entsteht der Eindruck der Streben eines Sprossenfensters. Auch diese weißen Leerräume sind Teil von Esther Mathis’ Arbeit “Fenster, Regen 1”.

Fenster sind Bauelemente aus Glas, die Tageslicht in Innenräume einlassen und zugleich vor Witterungseinflüssen, Schall und Kälte schützen. Im Fall von Esther Mathis „Fenstern“ handelt es sich nicht um solche Bauelemente. Die Glaselemente hängen nicht in, sondern vor der Wand des Ausstellungsraums. Die Assoziation ergibt sich allein durch die Materialwahl und das Aufgreifen der ästhetischen Gliederung eines Fensters.

Mathis‘ Arbeit lenkt den Blick auf ein Material, das im Alltag kaum bewusst wahrgenommen wird. Üblicherweise hat Fensterglas die Aufgabe, transparent und unsichtbar zu sein. Einschlüsse im Glas oder Schmutz werden als Fehler oder optische Störmomente wahrgenommen. Mathis‘ „Fenster“ fordern die eingehende Betrachtung ihrer Glasoberflächen hingegen ein.

Livie Gallery Esther Mathis, atelier 1
Esther Mathis: Fenster, Atelier 1, 2023. Mineral pigment fuid on glas, 125 x 95 cm. Courtesy by Esther Mathis and Livie Gallery.

Die Arbeit „Fenster Regen, 1“ weckt mit feinen weißen Sprenkeln auf hellblauem Untergrund Assoziationen zu nassen Witterungsbedingungen, etwa einem Schneegestöber. „Fenster, Nacht 1“ besteht aus sechs dunklen Glaselementen, auf denen sich feine Schlieren in violett, orange und hellgrau abzeichnen. Die Spiegelungen und Farbschattierungen erinnern an Ölschlieren in einer Pfütze und stellen ebenfalls einen Bezug von Glas zu Wasseroberflächen her.

„Fenster, Atelier 1“ besteht aus vier Glasscheiben im Hochformat. Die Scheiben sind hellgelb. Sie weisen blasse Unregelmäßigkeiten auf. Die wie um ein Fensterkreuz angebrachten Gläser lassen an warmes Sonnenlicht denken, das durch ein staubiges Fenster fällt, womöglich auf einen Dachboden oder in ein ungenutztes Arbeitszimmer. Mathis überträgt den Farbeindruck einer bestimmten Lichtstimmung auf das Glas selbst.

Livie Gallery Esther Mathis, installation
Esther Mathis: Fenster, 2023. Installation view Livie Gallery. Courtesy by Esther Mathis and Livie Gallery.

Dies gelingt ihr durch das Bemalen der glatten Glasoberflächen mit sogenannten Lüsterpigmenten. Während des anschließenden Brands der Scheiben bilden die im Pigment enthaltenen Metalloxide individuelle, teilweise unvorhersehbare Strukturen aus, die das Farbbild mitbeeinflussen. Die auf dem Glas entstandenen malerischen Strukturen lassen sich wie fein gezeichnete Pigmentbilder betrachten.

Mathis‘ Ausgangspunkt für diese Bilder sind eigene Erinnerungen. Ihre „Fenster“ eröffnen keinen Ausblick, sie gewähren einen persönlichen Einblick. Die Anordnung der Scheiben, ihre Struktur und Farbtemperaturen stehen in direktem Bezug zu individuellen Gedächtnisbildern der Künstlerin. Mathis bildet Fenster nach, die für sie selbst von besonderer Bedeutung sind. Dabei geht es ihr nicht um das reine Replizieren konkreter Architekturelemente, sondern um die Wiedergabe multimedialer Erinnerungsbilder.

Livie Gallery Esther Mathis Nacht, Milano
Esther Mathis: Fenster, Nacht 2.1, 2023. Mineral pigment fuid and ink on glas, 75 x 50 cm. // Fenster, Nacht 2.2, 2023. Mineral pigment fuid and ink on glas, 75 x 50 cm. // Fenster, Milano 2, 2023. Mineral pigment fuid and ink on glas, 55 x 30 cm. Courtesy by Esther Mathis and Livie Gallery.

Der Titel der Arbeit „Fenster, Atelier Binz39“ erlaubt eine direkte Verbindung herzustellen zu solch einer möglichen Erinnerung aus Licht, Farben und Temperatur. „Binz39″ ist der Name des ehemaligen Arbeitsraums der Künstlerin. Durch das darin gelegene Fenster hat sie unzählige Male während ihrer Arbeit geblickt. Auch „Fenster, Atelier 1“ oder „Fenster, Milano 1“ stellen sprachlich einen Bezug zu Orten und Räumen her. Andere Arbeiten wie „Fenster, Regen 1“ oder „Fenster, Nacht 2.2“ geben nur abstrakte Hinweise. Sie lassen an einen Regentag im Frühling oder an das Schimmern einer Vollmondnacht denken.  

Welche konkreten Erinnerungen für Mathis mit den einzelnen „Fenstern“ verbunden sind, bleibt offen. Doch der Verweis darauf, dass die Arbeiten Erinnerungen zeigen, verändert den Blick auf die vorgefundenen Werke. Mathis‘ „Fenster“ ermöglichen nicht das mentale Wiedererleben spezifischer Erfahrungen. Sie bieten einen Raum für persönliche Assoziationen und das spontane Aufkommenlassen eigener Erinnerungen.

WANN: Die Ausstellung „Fenster“ läuft bis Mittwoch, den 15. November.
WO: Livie Gallery, Claridenstrasse 34, 8002 Zürich.

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