Aktualisierung von Gedächtnisbildern
Katharina Sieverding plakatiert Nürnberg

23. Mai 2020 • Text von

Anstatt mit Werbeplakaten sehen sich die Nürnberger dieser Tage mit einem hochkarätigen Ausstellungsprojekt konfrontiert. Die Künstlerin und Fotopionierin Katharina Sieverding bespielt gemeinsam mit dem Kunstbunker die gesamte Stadt mit ihren Werken.

Plakat der Fotografin Katharina Sieverding in Nürnberg

DIE SONNE UM MITTERNACHT SCHAUEN SDO/NASA (Blue), 2010-2015, Installationsansicht, Katharina Sieverding: KUNSTBUNKER NÜRNBERG 2020, 6 Bilder, 72 Standorte, © Katharina Sieverding, Foto: Claus Föttinger Courtesy kunstbunker – forum für zeitgenössische kunst e. V.

Nachdem sie 2019 bereits im Schloss Dachau ausstellte, verschlug es Katharina Sieverding in diesem Jahr direkt wieder nach Bayern und zudem in eine weitere historische Wirkstätte des Nationalsozialismus, dessen Ideologie sie in ihrer Arbeit immer wieder aufgreift und kritisiert. Im Rahmen eines Projekts mit dem Kunstbunker sind aktuell sechs verschiedene Arbeiten der Künstlerin in Form von Großplakaten im gesamten Nürnberger Stadtgebiet zu sehen. Für die Intervention wurden ihr 72 Werbeflächen zur Verfügung, über die sie den Menschen einen unmittelbaren Zugang zu ihrer Kunst jenseits etablierter Ausstellungsorte eröffnet.

Diese Art der Werkspräsentation begleitet die Künstlerin allerdings nicht erst seit Ausbruch des Covid-19-Virus, der die Schließung von Kunstinstitutionen zur Folge hatte. Den Anfang machte 1989 ein Selbstportrait mit dem darüber gelegten Satz „Deutschland wird deutscher“, das in mehreren deutschen Städten plakatiert wurde und selbstredend einen Skandal auslöste. Für breiter angelegte Aktionen nutzte Katharina Plakatwände stadtübergreifend als Medium, beispielsweise in Düsseldorf und Palermo.

Plakataktion der Künstlerin Katharina Sieverding in Nürnberg

GLOBAL DESIRE II, 2017, Installationsansicht, Katharina Sieverding: KUNSTBUNKER NÜRNBERG 2020, 6 Bilder, 72 Standorte, © Katharina Sieverding, Foto: Claus Föttinger Courtesy kunstbunker – forum für zeitgenössische kunst e. V.

Katharina Sieverding in Nürnberg! Für viele Beobachter ein Coup in der Phase für die Bewerbung als Kulturhauptstadt Europas 2025. Wie kam es zu der Kooperation mit dem Kunstbunker?
Schon die Einladung von Hans-Jürgen Hafner zu einer Kooperation in einem Kunstbunker in Nürnberg 2018/19 hat mich neugierig gemacht und interessiert. Gemeinsam haben wir schon einige Projekte im Kunstsystem realisiert, unter anderem Radiotalks, Preisverleihungen, Ausstellungen, Katalogprojekte, aber noch nie etwas in einem Bunker.
Ich hatte schon damals die Idee, den Bunker in Nürnberg mit plastisch-spiegelnden, fotografischen Raumobjekten aufzuhellen. Gerne hätte ich dort das  GROUND ZERO-Projekt „GZ 1-6, 2002“ realisiert, das zuvor nur 2003 auf der Kunstmesse Art Cologne und 2005 im Edith-Russ-Haus in Kooperation mit dem Kunstverein Oldenburg veröffentlicht wurde. Doch dann kam der Kunst-Lock-Down und so ging es vom unterirdischen Artspace in den überirdischen Stadtraum von Nürnberg.

Plakataktion der Künstlerin Katharina Sieverding in Nürnberg

STEIGBILD IX, 1997, Installationsansicht, Katharina Sieverding: KUNSTBUNKER NÜRNBERG 2020, 6 Bilder, 72 Standorte, © Katharina Sieverding, Foto: Claus Föttinger Courtesy kunstbunker – forum für zeitgenössische kunst e. V.

Sollen Ihre Arbeiten eine Symbiose mit oder eher einen scharfen Kontrast zu ihrer Umgebung, insbesondere den herkömmlichen Werbeplakaten bilden?
Es sind künstlerische Statements die sowohl im Whitecube als auch im öffentlichen Raum installiert werden können. Oft verschärft sich an den „Schnittstellen“ zu Werbeplakaten die Auseinandersetzung mit der Frage: Wofür steht beziehungsweise wirbt die Kunst inmitten der vielseitigen Werbestrategien für Konsum, Absatz, Politik?

Ist die Gestaltung des öffentlichen Raumes eine logische Konsequenz, ein künstlerischer Auftrag, wenn das eigene Werk politisch wirken soll?
Es ist auf jeden Fall eine interessante Herausforderung, für die man Partner und ökonomische Unterstützung benötigt sowie Skandal und Ablehnung erntet. So habe ich es gleich bei meinem ersten Versuch 1992 zum internationalen Projekt „Platzverführung“ von Rudi Fuchs erlebt, als ich in 18 Städten der Kulturregion Stuttgart die Plakataktion „Deutschland wird Deutscher“ realisieren wollte. 17 Städte lehnten die Aufstellung aus Sorge um ein öffentliches Missverständnis total ab. Statt kritischer Warnung sahen sie darin eine Aufforderung. Es folgten noch einige andere Projekte unter anderem im Großraum Berlin, in Düsseldorf und in Palermo.

Plakataktion der Künstlerin Katharina Sieverding in Nürnberg

OTIII/2020 (NÜRNBERG), 2020, Installationsansicht, Katharina Sieverding: KUNSTBUNKER NÜRNBERG 2020, 6 Bilder, 72 Standorte, © Katharina Sieverding, Foto: Claus Föttinger Courtesy kunstbunker – forum für zeitgenössische kunst e. V.

Mit Ihrer Arbeit möchten Sie kollektiv geprägte Gedächtnisbilder aktualisieren. Wie empfinden Sie die gesellschaftspolitischen Reaktionen auf Ihre Plakataktionen über die Jahre und Orte hinweg?
Es gibt viel Unterstützung aber auch Ablehnung. Im Grunde bestätigen und spiegeln sie die Vorahnungen zum Zeitgeist, der sich immer wieder aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft speist und nicht in seinen Widersprüchen akzeptiert und verantwortet wird.

Bei Werken wie beispielsweise „OT III/2020 (Nürnberg)“ oder „Global Desire II“ nutzen Sie das Stilmittel der Überblendung. Bei der Rezeption von Bildquellen über unser kollektives Gedächtnis überlagern sich ebenfalls mehrere Bedeutungsebenen, die über die Jahrzehnte und Jahrhunderte mal mehr mal weniger im Vordergrund stehen. Gibt es hier eine Parallele?
Absolut. Das führt die bildnerische Aussage zum Punkt der Unausweichlichkeit. Der Betrachter wird angesichts dieser Bildsynthesen aufgefordert, Maßstäbe zu entwickeln, die das Auseinanderdriften der Welt zwischen hochkarätigem Wissen und gesellschaftlicher Ohnmacht, zwischen technologischem Fortschritt und moralischer Armut verhindern können. Mit der partiellen Lesbarkeit der computergenerierten Bildeffekte wird betont, dass auch in der zunehmend virtuellen Welt die Verantwortlichkeit Thema bleibt (s. Rudolf Schmitz, NOEMA 48/1988).

Portrait der Fotografin Katharina Sieverding

Portrait von Katharina Sieverding, 2020, Foto: Klaus Mettig

Die Entstehungszeitpunkte der sechs in Nürnberg gezeigten Arbeiten erstrecken sich vom 1989 bis 2020. Wie stark prägt ein persönlicher Vergegenwärtigungsprozess Ihre aktuellen Arbeiten und Ausstellungskonzeptionen?
Mein persönlicher Vergegenwärtigungsprozess in Bezug auf die „wiederholten Spiegelungen“ ist permanent notwendig, um in einer sozialen, kollektiven wie ich-bezogenen Verselbständigung zu überleben. In diesem Sinn ist Ich-Organisation, Immunität und selbstverantwortete Weltdeutung möglich.

WANN: Die Aktion mit dem Nürnberger Kunstbunker läuft offiziell noch bis zum 25. Mai. Insgeheim spekulieren wir natürlich darauf, dass eventuell das ein oder andere Plakat noch etwas länger hängenbleibt.
WO: Im gesamten Nürnberger Stadtgebiet.

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