Matratzen über Matratzen
Tobias Spichtig in den KW

21. Januar 2022 • Text von

In den KW stellt Tobias Spichtig ein Archiv gebrauchter Matratzen aus, überzogen mit Bettlaken seiner Freund:innen. Der Künstler lädt nicht nur zu Gutenachtgeschichten ein, sondern auch dazu Alltagsgegenstände zu reflektieren und sich bewusst zu machen, welche Geschichten nicht nur auf ihnen erzählt werden, sondern auch entstehen.

Tobias Spichtig, Die Matratzen, 2016. Courtesy der Künstler und Jan Kaps, Köln; Foto: Mareike Tocha

Die meisten, die es zu Tobias Spichtigs Matratzen verschlägt, bekommen vermutlich keine Gutenachtgeschichten mehr vorgelesen. Als mein abendliches Einschlafritual, das eigentlich gar nicht so lange her ist, noch daraus bestand, dass meine Mutter mir aus einem der zwei Kinderbücher – zu denen ich jeweilige Obsessionen entwickelt hatte – vorlas, habe ich die Matratze, auf der ich dabei lag, nicht wirklich bewusst wahrgenommen. Warum auch? Einer der allgegenwärtigsten Alltagsgegenstände, ohne den das Leben wortwörtlich (und physisch) unbequem wäre: die Matratze. Sie ist so ubiquitär, dass wir ihr – außer wenn es darum geht im Matratzenshop, oder alternativ auch Ikea, Ersatz zu suchen – häufig gar keine besondere Aufmerksamkeit schenken.

Sie ist eben einfach da. Liegt in der rechten Ecke links neben dem Fenster, steht hinter der Tür, bevor sie im Abendritual behutsam niedergelegt wird, befindet sich mal in der Mitte des Raumes, mal auf einem Bettgestell, mal direkt auf dem Boden oder auf einer nachhaltigen Steckkonstruktion aus Pappe. Auf ihr wird nicht nur zu Abend gelesen, sondern dort findet auch Mittagslektüre statt, der morgendliche Kaffee und der spätabendliche Energydrink für den All-nighter. Kinder werden auf Matratzen gezeugt und geboren. Das Leben anderer endet auf ihnen. 

Tobias Spichtig, Die Matratzen, 2016. Courtesy der Künstler und Jan Kaps, Köln; Foto: Mareike Tocha

In seiner fünftägigen Ausstellung „Die Matratzen“, im Rahmen der Pause-Reihe, die als Unterbrechung des laufenden Programms der KW fungiert, hat der Schweizer Künstler die Halle der KW mit einem Archiv aus verschiedensten Matratzen belegt. Freier Boden ist nicht mehr sichtbar, dafür aber eine schachbrettartige Ansammlung des Alltagsobjektes. Die Bettlaken, beschmutzt mit ausgewaschenen Kaffeeflecken und anderen nicht identifizierbaren Flüssigkeiten, stammen von Freund:innen und Bekannten des Künstlers und des Kurators, Krist Gruijthuijsen. Um ein „superspreader bed bug event“ – wie ein Kunstkritiker es in einer Instagram-Story nennt – handelt es sich bei der Ausstellung aber nicht unbedingt. Auch wenn die Bettlaken gebraucht sind, wurden sie, bevor Besucher:innen mit hygienischem Plastik-Überschuhen die Matratzenlandschaft besteigen können, gewaschen und desinfiziert.  

Während der fünf Tage können sich Besucher:innen außerdem zurückerinnern, wie es sich damals angefühlt hat, als man sich schon am Nachmittag auf die Gutenachtgeschichte gefreut hat. Spichtig hat verschiedene Autor:innen, darunter Karl Holmqvist, Theresa Patzschke, Calla Henkel und Kristian Vistrup Madsen, zu Abendlesungen auf den Matratzen eingeladen. 

Tobias Spichtig, Die Matratzen, 2016. Courtesy der Künstler und Jan Kaps, Köln; Foto: Mareike Tocha

Spichtigs Matratzen sind trotz substanzieller Vorbelastung eigenartig sauber. Auch wenn man beim Gedanken daran, wer und was schon alles auf den Laken stattgefunden hat, kurz stutzt, spielt sich ein Gefühl von Ekel eher im dumpfen Hintergrund ab. Man kann sich also ohne Sorge auch mit seiner babylauen Mugler Skijacke aus den 2000er-Jahren, eine Besucherin trägt dieses Mode-Archiv-Objekt bei der Eröffnung, auf die Matratzen fläzen. 

Bei Spichtigs Installation könnte es sich auch um ein objekthaftes, assembliertes Gemälde handeln, das in direkter Interaktion mit den Rezipient:innen steht. Der Kunsthistoriker Daniel Sherer beschreibt Spichtig in einem Künstlergespräch als Künstler, der sich mit allen Dimensionen des Bildes beschäftigt. Dabei sei seine untere Grenze architektonisch, in Form der Matratzen, die den Raum plastisch begrenzen, während sich seine obere Grenze aus dem Wort und den Gedanken zusammensetzt. Spichtigs obere Grenze tritt in seiner Ausstellung nicht nur durch die Lesungen hervor, sondern auch durch die Objekte selbst. In die Bettlaken haben sich nicht nur oberflächliche Kaffeeflecken eingeprägt, sondern auch persönliche Geschichten und Intimitäten von für uns anonymen Charakteren.

Der Künstler arbeitet mit den Relikten anderer Menschen, die durch den Gebrauch eines Alltagsobjektes die Basis seines Kunstwerks geschaffen haben. Dabei fungiert Spichtig als Mediator, der die Geschichten zusammensetzt. Vielleicht handelt es sich also nicht um ein „superspreader bed bug event“, sondern um ein „storyteller good night event“. Den Artikel schreibe ich übrigens auf meiner seit zwei Tagen immer noch nicht vollständig bezogenen Matratze – dafür mit provisorisch locker darauf liegendem Bettlaken – auf der ein in sechs geteilter Kaffeefleck ist, der einfach nicht mehr rausgeht. 

WANN: Die Ausstellung „Die Matratzen” läuft noch bis Sonntag, den 23. Januar.
WO: KW Berlin, Auguststraße 69, 10117 Berlin.

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