Die Poesie der kleinen Dinge Bill Walton bei Sweetwater
12. Oktober 2023 • Text von Julia Stellmann
Still ist es in der Galerie Sweetwater. So still, dass man sie hören kann. Die Poesie der kleinen Dinge, von der Hugo von Hofmannsthal sprach. Jeder kennt diese Tage, die sich wie alle anderen anfühlen, aber dann in einem unbemerkten Moment die Schönheit des Alltags zutage tritt. Bei Bill Walton beginnen die Dinge zu klingen, erzählen ohne Worte, in ihrer ganz eigentümlichen Sprache.
Aus hölzerner Kiste ragen schmale Sperrholzplatten, vielfarbig ihre Kanten, reihen sich wellenförmig aneinander, bilden Gebirgslandschaften. Was aus der Kiste nach oben strebt, gleicht einem bewusst gestalteten Relief. Nur ein Bruchteil der Skulptur ist jedoch sichtbar, der Großteil liegt verborgen, bleibt der eigenen Fantasie überlassen. Fast meint man, eine Symphonie aus tieferen und höheren Tönen zu hören, die aus hölzernen Brettern erklingen. Denn es entspinnt sich eine stumme Partitur, als würden die Hölzer wie Tasten eines Klaviers zu spielen beginnen.
Wer genau hinschaut, erkennt all die kleinen Details, jede Unebenheit in den Oberflächen. Der US-amerikanische Künstler Bill Walton ist genau so jemand, der das Auge prüfend auf Unscheinbares richtet. In seinen Arbeiten wirkt es zuweilen, als ob Metall Holz umarme, in es eindringe, ihm Verletzungen zufüge. Manchmal sehen harte Materialien auch ganz weich aus, scheinen gefaltet, aufeinander geschichtet in einzelnen Lagen. Schichten, die in Wahrheit ineinander münden, zu einer Einheit verschmelzen. All das sind Dinge, die eine andere Materialität als ihre eigene vorgaukeln. Flexibel anmutender Stoff ist eigentlich aus Blei gegossen, Metall biegt sich wie lichte Papierbögen. Walton unterwandert die gängigen Erwartungen, wie Materialien angeblich zu sein haben.
Rau ist die Rinde, glatt das Metall. Wann sind die Dinge wohl am schönsten? In nächtlicher Dunkelheit oder im goldenen Glanz des Sonnenlichts? Und wie sehen sie aus in Abwesenheit des Lichts? Der Lichtkegel einer Taschenlampe bringt Messing zum Leuchten, das vorher aus Holz gefertigt schien. Die geschnitzten oder vermeintlich unbehandelten Kanten täuschen in diesem Sinne eine ganz andere Haptik vor. Je länger die Betrachter*innen hinsehen, desto weiter schält sich die Rinde, legt den inneren Kern der Dinge frei. Vielleicht kommt die Illusion dem echten Gesicht näher, kehrt die Maske das wahre Sein an die Oberfläche? Hölzerne Kisten rahmen schwer wiegende, schwer ahnende Inhalte. Was verbirgt sich in scheinbar offenen Behältnissen?
In “Spring Crate” umzäunen hölzerne Streben einen Zylinder aus Bronze, der mehr Gewicht hat, als man zunächst meinen könnte. Nach oben hin geöffnet, sind die Kisten trotzdem keine Offenlegungen, sondern erwecken einen genau kalkulierten Anschein des Inhalts, geben einen Einblick, nie einen Durchblick. Ähnlich verhält es sich mit einer gleichnamigen Arbeit, in welcher die oberen Deckel von acht Dosen sichtbar sind. Vier davon wurden industriell gefertigt, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Betonabgüsse. Der Titel könnte eine Referenz an den Ort der Entstehung, Waltons Studio an der Spring Street darstellen.
Bill Walton wurde 1931 in Camden, New Jersey geboren, verbrachte jedoch die meiste Zeit seines Lebens in Philadelphia. Bis zu seinem Tod im Jahr 2012 und darüber hinaus wurde sein gleichermaßen fertig wie unfertig wirkendes Schaffen regelmäßig im englischsprachigen Raum ausgestellt. Walton ließ dabei einen Großteil seiner Arbeiten seit den 80er Jahren bewusst undatiert, um sie ephemer und zugleich zeitlos zu gestalten. Sind sie doch gewachsen oder geschmiedet lange Zeit bevor sie von der Hand des Künstlers neu arrangiert wurden. Sie alle besitzen einen ganz eigenen Charakter, scheinen beinah lebendig zu werden. Tatsächlich sind sie von Walton des Öfteren als Porträts von Freunden oder Orten gedacht, wenn zum Beispiel “Sweet Lou & Marie (#1)” die Besitzer*innen eines örtlichen Diners charakterisiert.
In der Wahl der kargen, alltäglichen Materialien erinnern Waltons Arbeiten an die Arte Povera. In ihrer Wandelbarkeit lassen sie darüber hinaus an Joseph Beuys denken. Natürlich gewachsenes ist bei Walton wie bei Beuys mit künstlichem Material eng verbunden, wenn ersterer Holz in Metall fließen ließ und letzterer Basaltstelen mit Eichen auf der Documenta VII dicht beieinander pflanzte. Waltons Dosen scheinen zudem Warhol zu zitieren, aber weniger popkulturell, sondern in grauen Farben. Ihnen allen gemein ist die subtile Ironie, welche die minimalistischen Werke auszeichnet.
Was auf den ersten Blick spröde und karg wirken könnte, ist voller Leben, voll von Farben. Ein Minimalismus, der alle Facetten des Lebens in sich birgt. Spielerisch experimentierte Walton mit Formen und Farben, wenn exakt festgelegte Abstände je zwei Lagen Leinwand mit einer dünnen Eisenstange verknüpfen. Selbst die Beschläge sind eigens hergestellt, bis ins kleinste Detail ist jede Arbeit durchkomponiert. In der Ausstellung finden sich bekannte Materialien, befreit von jeglichen Konventionen. Ganz still wird es also beim Gang durch die Räumlichkeiten der Galerie Sweetwater, die Waltons Formen architektonisch nachvollziehen. Nur so kann man sie hören, die stille Poesie der kleinen Alltäglichkeiten.
WANN: Die Ausstellung läuft bis Samstag, den 4. November.
WO: SWEETWATER;, Leipziger Straße 56-58, 10117 Berlin.