Die funkelnde Leerstelle im Rampenlicht
"Call it what you want": Kayode Ojo bei Sweetwater

27. Mai 2021 • Text von

Es liegt bei dir: Wie viel willst du wissen? Hinter durchsichtigem Acryl verborgen liegt das Geheimnis dieser Werke, erst durch dein Interesse hebt sich der Schleier. Kayode Ojo liebt die Leerstelle, die (Selbst-)Reflexion. Er verschlüsselt seine Identität wortwörtlich hinter einer durchsichtigen Fassade. Wenn du nicht fragst, findest du sie nicht. Lass dich nicht blenden und nimm den Schlüssel in die Hand. (Text: Lara Brörken)

Installation view: Kayode Ojo, Call it what you want, Sweetwater, Berlin. April 30 – June 19, 2021. Courtesy of Kayode Ojo and Sweetwater, Berlin.

Hinsehen reicht bei Kayode Ojo nicht. Er weiß ganz genau, dass das, was sichtbar ist, nicht unbedingt echt sein muss. Echt im Sinne von authentisch, glaubwürdig, wirklich deins. Aus der Fotografie kommend weiß Ojo, dass sich Menschen vor der Kamera verbiegen, dass sie vor dem Blitzlicht zum Schatten ihrer selbst werden, dass sie sich verkleiden und bei der Frage danach, wer sie sind, schnell auf die großen Marken ihrer Kleidung zeigen. Die sichtbare Oberfläche ist nicht selten eine optische Täuschung. Aus dem Grund ist so gut wie jedes Werk von Ojo transparent und gibt dennoch keinen Inhalt preis, denn auch die Geschichten und Ideen hinter den Werken sind transparent. Sie lassen sich nirgendwo ablesen, weil in der Ausstellung bei Sweetwater bewusst auf das geschriebene Wort verzichtet wurde. Der Schlüssel zum Inhalt ist die Frage. Du musst dir die Werke selbst mit Leben füllen, ansonsten: „Call it what you want”.

Installation view: Kayode Ojo, Call it what you want, Sweetwater, Berlin. April 30 – June 19, 2021. Courtesy of Kayode Ojo and Sweetwater, Berlin.

Ein leerer brauner Lederkoffer mit vielen kleinen und großen Fächern, in einem liegt ein Schlüssel. Der Koffer ist über einem Spiegel auf Plexiglas-Füßen aufgestellt. Da prallen Material-Welten aufeinander, aber es ist mehr als das. Die Fächer des Vintage-Koffers beinhalten normalerweise die Teile einer „Hasselblad“-Kamera. Teurer und angesagter geht Fotografie im Grunde nicht. Wer eine „Hasselblad“ besitzt, hat (oder hatte) richtig Geld. Ein Zeichen für Talent ist die Kamera allerdings nicht. Sie zu haben ist noch keine Kunst. Das sind Gedanken, die der Koffer anregt. Nachgefragt entfaltet dieses Werk unerwartete Dimensionen. Der Titel „Flyover State“ deutet sie an. Ojo sieht den Koffer in der Vogelperspektive und fühlt sich an Landschaften erinnert. Er fliegt gedanklich über die „Flyover States“, wie die US-Staaten zwischen West- und Ostküste genannt werden. Im „Flyover State“ Tennessee geboren, weit entfernt von Hollywood Hills und Broadway, war der Schritt nach New York für Ojo ein besonders aufregender, aber auch angsteinflößender.

Der Koffer steht auf einem reflektierenden Spiegel-Boden und auf wackeligen Beinen. Kein Klebstoff hält den Koffer fest, keine Sicherheit ist gegeben. Ein versteckter Balanceakt. Die Reise, der Weg, das Labyrinth, die Weite, die Enge, die Masse, das Individuum, der Reichtum und die Armut – der aufgeschlossene Koffer hat einiges zu erzählen, man muss ihn nur fragen.

Installation view: Kayode Ojo, Call it what you want, Sweetwater, Berlin. April 30 – June 19, 2021. Courtesy of Kayode Ojo and Sweetwater, Berlin.

Fünf Briefkästen hängen übereinander, säulenartig an der Betonwand. Sie sind aufgeklappt, die Schlüssel stecken noch. In jedem Kasten steht ein Teil einer „Kiev 88“- Kamera, die billigere Kopie einer „Hasselblad“. Die „Hasselblad“ für Arme sozusagen. Die Innenseiten der Briefkästen sind mit Spiegeln ausgekleidet, sodass es nicht möglich ist, dem Werk gegenüberzustehen, ohne die eigene Reflexion zu sehen. Du kannst dir nicht aus dem Weg gehen. Du störst dich selbst, fühlst dich beobachtet, verhältst dich unnatürlich, bewegst dich unruhig hin und her, um das Werk nicht mit der eigenen Visage einzufärben – es gelingt nicht. Du wirst von dem Spiegel im Briefkasten genauso wie von dem Spiegel im Inneren einer Kamera ins Bild gesetzt. Diese Briefkästen sind die Schnittstelle von Privatheit und Öffentlichkeit. Sehen und gesehen werden. Die Öffentlichkeit hat den Schlüssel und schließt schonungslos auf, obwohl du manche Dinge lieber unter Verschluss gehalten hättest. Im Blitzlichtgewitter lösen sich die Grenzen auf.

Hier scheint alles schöner, als es ist. Angekettete Kronleuchter hangeln sich eindrucksvoll durch den gesamten Raum und täuschen in glänzendem Plastik und Acryl Hochwertigkeit vor.  Die Paillettenkleider und Fake-fur tragenden Körper haben sich in ihren Outfits in Luft aufgelöst. Sie hängen noch gerade so an den Notenständern, krallen sich fest am Showgeschäft, aber haben ihr Innerstes längst vom Performancedruck eindampfen lassen. Sie sind durchsichtig gewordene Identitäten der Öffentlichkeit. Die sichtbargewordene Tragik des „Overdressed“-Seins.

Installation view: Kayode Ojo, Call it what you want, Sweetwater, Berlin. April 30 – June 19, 2021. Courtesy of Kayode Ojo and Sweetwater, Berlin.

Im vorderen Bereich des Ausstellungsraumes, den man aufgrund des Sichtbetons und der Stahlrohre an der Decke als „industrial grey cube“ bezeichnen könnte, doppeln sich die Werke, sie referieren im Raum aufeinander. In diesem Fall ist es keine Spiegelung, sondern es gibt tatsächlich zwei Seiten. Links hängt eine transparente „Pearl“-Drum mit Handschellen an eine Kleiderstange gebunden – rechts dasselbe nochmal. „Mutterdrum“ und „Vaterdrum“ stehen sich gegenüber und verschlüsseln in sich den tief greifenden Nachklang des untrennbaren Familienbandes. Die kleinere, schüchterne „Michdrum“ versteckt sich hinten hinter einer Säule. Räumliche Distanz, aber für die Handschellen gibt es keinen Schlüssel. Familie steht mobil auf Rollen, ist begleitender Klang des eigenen Lebens – hintergründig und stetig. Nicht abzulegen. Bass Drum. Herzschlag.

Installation view: Kayode Ojo, Call it what you want, Sweetwater, Berlin. April 30 – June 19, 2021. Courtesy of Kayode Ojo and Sweetwater, Berlin.

An den zwei Säulen vor dem großen Fenster der Galerie steht jeweils eine Vitrine mit vier quadratischen Fächern. Auf der rechten Vitrine steht ein winziger alter Fernseher, der Ausschnitte aus „Call Me by Your Name“ zeigt. Dieser Film hat den Hype um Timothée Chalamet entfacht, der sich in der Rolle eines jungen, klugen Mannes und Sohnes eines Professors in dessen Doktoranden verliebt. Der Teenie wird von einer überraschenden homosexuellen Anziehungskraft überrumpelt. Eine zarte, sommerwarme Liebesgeschichte – eine Geschichte, zu der auch Ojo einen ganz persönlichen Bezug hat. Es gibt Parallelen überall. Auch er ist Professor:innen Sohn, auch ihn beschäftigen Fragen nach sexueller Identität. Kann „Call Me by Your Name“ als Spiegel seiner eigenen Realität gesehen werden? Der Titel „Call it what you want“ steht „Call Me By Your Name” schon in seinem Klang nahe. Vielleicht ist ja der Film der entscheidende Schlüssel. Wer weiß. In der Gegenüberstellung der beiden Titel ergeben sich jedenfalls auf einmal neue, zwischenmenschliche Fragen: Wie wollen wir miteinander umgehen? Wie viel Nähe zu Menschen wollen wir zulassen? Wollen wir einen Abstand zur persönlichen Geschichte des Künstlers wahren? Wo ist deine eigene Grenze? Wo zieht die Diskretion ihre Grenzen? Das darf hier jeder selbst entscheiden, denn letztendlich ist es die Selbstbestimmung, die Ojo wichtig ist. 

Installation view: Kayode Ojo, Call it what you want, Sweetwater, Berlin. April 30 – June 19, 2021. Courtesy of Kayode Ojo and Sweetwater, Berlin.

Im Fach darunter steht eine durchsichtige Box mit Zahlenschloss, in der ein Diktiergerät steht. Warum ist es eingeschlossen? In ihrer Durchsichtigkeit verbirgt die Box nichts, aber dennoch hütet sie ein Geheimnis, vielleicht versteckt sich Sprache im Diktiergerät?

Im dritten Fach ist ein Kameraobjektiv zu sehen, das eigentlich ein Kaffeebecher ist. Täusch dich nicht! Trau deinen Augen nicht. Warum sind die unteren beiden Fächer leer? Vielleicht ist die Symmetrie der Grund, vielleicht ist gerade die Leere das Thema. Die Einsicht, die Durchsicht. Alle Objekte in der Vitrine sind vertikal zum Boden ausgerichtet. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes steht dieselbe Vitrine, in ihr dieselben Gegenstände, allerdings waagerecht ausgerichtet, der Fernseher ist ausgeschaltet. Die Symmetrie dirigiert durch diesen Raum. Die Vitrinen sind im Großen, was die Füße des Koffers im Kleinen sind. So zieht sich ein unsichtbarer Faden, oder auch Stahlketten, von Objekt zu Objekt. Stabilität und Fragilität tragen ihre leisen Kämpfe aus.

Du bewegst dich im grauen Sweetwater-Würfel, im Ojo-versum, permanent zwischen zwei Polen: Oberfläche – Inhalt, Schein – Sein, Wahrheit – Trugschluss, Sehen – Gesehen-werden, Oben – Unten, Positiv – Negativ, Öffentlichkeit – Privatheit, Industrie – Identität, Geschlossen – Offen, Ojo – Ich. Im Dazwischen ist eine sehr individuelle Erfahrung möglich, weil du andere Fragen an die Werke hast als ich. Die eine Seite wird dich stärker triggern als die andere. Du wirst die durchsichtigen Fäden an anderer Stelle sehen oder ziehen. Es sind noch Fragen offen. Geh und frag dich hinter die Kulissen! Der Blick in den Raum voller funkelnder Leerstellen lohnt sich.

WANN: Die Ausstellung “Call it what you want” von Kayode Ojo ist noch bis Samstag, den 19. Juni, zu sehen.
WO: Sweetwater, Leipziger Str. 56-58, 10117 Berlin.

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