Der Stoff, aus dem Sicherheit gemacht ist
Ambrose Rhapsody Murray bei Bode Projects

8. Dezember 2022 • Text von

Gibt es dramatische Vorfälle, hängt die Flagge auf Halbmast, gibt es eine Meinung mitzuteilen, wird Flagge gezeigt und wurde ein Landstrich erobert, demonstriert die gehisste Flagge den Territorial- und Machtgewinn. Und wenn es etwas zu feiern gibt, wird die Wimpelkette rausgekramt. Ambrose Rhapsody Murray bearbeitet, verwebt und schichtet die Bedeutungen der Flagge in textiler und farblicher Variation. Private Familienportraits verleihen den Arbeiten eine persönliche Historie. Bei Bode Projects wird mit der Solo-Show “Oceans and Stars and Tulips” erstmals das Werk der Künstler*in in Deutschland gezeigt.

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Ambrose Rhapsody Murray: “Magenta: Hot Pink Memory: Flag II: Nowhere and Everywhere”, 2022, Prints on silk organza and silk crepe (family photos), wood, paper collage and acrylic, 237.5 × 95.3 cm. Photo: Bode Projects.

Eine Flagge sollte ein Gemeinschaftsgefühl vermitteln, sie sollte für alle stehen, ein Symbol des Friedens, der politischen und sozialen Stabilität sein. Beim Gedanken an die deutsche Variante kann an mindestens einer, wenn nicht an jeder Stelle dieser Aufzählung berechtigter Widerspruch eingelegt werden. Die, die sich so richtig mit der deutschen Nationalflagge identifizieren, sind tendenziell diejenigen, die politische Stabilität gefährden. Unter der Flagge versammelt sich selten tolerantes Gedankengut. Es sei denn, es ist Fußball-WM, obwohl auch da … lassen wir das.

Ambrose Untitled III (fragment2) Textile 2022
Ambrose Rhapsody Murray: “Heart of Lo Lo: Dreams for Mom”, 2022, Paper collage on rattan, acrylic pant and prints on cotton canvas, 271.8 × 88.9 cm. Photo: Bode Projects.

Raus aus dem deutschen Schrebergarten, rüber über den Ozean, rein in die Südstaaten der USA. Hier wuchs Ambrose Rhapsody Murray auf, weit entfernt von einem staatlichen Sicherheitsgefühl. Als Schwarze Person erlebte Murray ein Gefühl der Sicherheit hauptsächlich innerhalb der Familie und der Black Community. Ein sicherer Rahmen, der sich trotz einer Historie der Sklaverei, des Rassismus, der Unterdrückung oder gerade wegen eben dieser besonders festgesteckt hat. Mit künstlerischer Arbeit erschafft Murray auf berührende Weise eine eigene Flagge, die ihr/sein Gefühl von Gemeinschaft einschließt und die Kapazitäten des Mediums ausreizt.

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Ambrose Rhapsody Murray: “Magenta: Hot Pink Memory: Flag II: Nowhere and Everywhere”, 2022, Prints on silk organza and silk crepe (family photos), wood, paper collage and acrylic, 237.5 × 95.3 cm. Photo: Bode Projects.

“Magenta: Hot Pink Memory: Flag II: Nowhere and Everywhere” ist ein großer Wimpel, über dessen stabilen Holzrahmen eine Zellstruktur aus Papier collagiert ist, die wie organisches Gewebe, wie Haut, das Innere und Äußere voneinander trennt, es gleichzeitig zusammenhält und schützt. Schützenswert weich im Inneren liegen fotografische Erinnerungen, die Murray über das Verfahren der Cyanotypie auf seidig fließende Stoffe druckt. Mutter und Kind lächeln fröhlich und gleichzeitig zaghaft in die Kamera. Die Privatheit der Fotografien wirkt direkt und unausweichlich, ein Gefühl der Geborgenheit entsteht. In der Gesamtheit scheint der Wimpel physische wie auch emotionale Innensicht zu gewähren. Das Textil pulsiert und fließt, wie das Blut in den Adern und das Magenta lodert und brodelt warm in all seinen Facetten.

Murray, Ambrose Untitled II (2) Textile 2022Install
Ausstellungsansicht mit der Arbeit “Russet and Cyan: Cream: Flag III: Family Photos minus Father: Hide”, 2022, Cyanotype on silk organza (family photos), hand-dyed silk (by Coco Villa), print on silk crepe, leather hide, woven tapestry, yarn, acrylic, on wooden frame, 195.6 × 127 cm. Photo: Bode Projects.

Wie der Titel der Ausstellung andeutet, spielt auch der Ozean als maritimer Ort der Flaggen, des Handels, der Seenot, Sehnsucht und als Bindeglied der Kontinente eine zentrale Rolle in Murrays Arbeiten. Speziell die blauen Werke wie “Russet and Cyan: Cream: Flag III: Family Photos minus Father: Hide” greifen das Thema nicht nur farblich auf. Die Seide, als ursprünglichstes Fahnenfertigungsmaterial des Mittelalters, fließt um das Leder herum, die Gesichter der Familie tauchen auf und ab, winken metaphorisch in den Ausstellungsraum hinein. Textilen und Geschichten, privat und öffentlich, Vergangenheit und Heute verstricken sich, verschwimmen. Das Blau birgt eine besonders starke Melancholie und einen Tiefgang, wodurch in die blauen Arbeiten etwas Sagenumwobenes einzieht, sie scheinen ein Geheimnis zu bergen, Lebendiges und Totes in sich einzuschließen – wie auch das Meer.

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Ambrose Rhapsody Murray: “Enfolded / Enshrouded / En Love / En Home / Endlessly Blue”, 2022, Paper collage on rattan, acrylic, print on netting, cyanotype on silk organza, wood, 144.8 × 31.8 cm. Photo: Bode Projects.

In diesen Momenten scheinen Murrays Flaggen zu Segeln zu werden. Sie tragen etwas fort, treiben Gedanken an und transportieren Geschichten, doch was und welche genau bleibt semitransparent. Die Arbeiten geben private Einsichten, aber bleiben doch immer ein stückweit undurchsichtig. Sie reizen Betrachter*innen an und liefern sie letztlich ihren eigenen Erinnerungen, wie auch den fremden, aus. Sie verweben familiären Zusammenhalt und Familiengeschichte buchstäblich. Reflektieren die gesellschaftspolitische Realität der Flagge, formulieren Wünsche an sie und fragen, wie weit sie auch die Geschichte, die die Diaspora einschließt, in die Welt tragen kann. Glücklicherweise haben sie es über den Ozean in die Reinbeckhallen geschafft, ein Glück für die kalten Berliner Winterherzen. Es ist Zeit die Wimpelkette zu entstauben.

WANN: Die Ausstellung “Oceans and Stars and Tulips” läuft noch bis Sonntag, den 8. Januar 2023.
WO: Bode Projects, Reinbeckstr. 29, 12459 Berlin.

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