Allegorien der Gewalt
Kevin Demery bei Sakhile&Me

19. Juli 2022 • Text von

Überall Polizei, nirgendwo Gerechtigkeit: Etwa drei Wochen ist es her, dass wieder ein junger, unbewaffneter Schwarzer Mann Opfer von Polizeigewalt wurde. Wie in vielen Fällen kostete es Jayland Walker das Leben und auf eine Verurteilung seines Täters ist zu hoffen, kommen diese doch allzu oft nur mit befristeter und entlohnter Suspendierung, aber ohne eine Anklage davon. Die Einzelausstellung “Menagerie”, derzeit in der Frankfurter Galerie Sakhile&Me zu sehen, zeigt Arbeiten des Künstlers Kevin Demery, die in ihrer bildlichen Stärke kein besseres Abbild der rassistischen Zustände in den USA geben könnten. (Text: Naomi Rado)

Kevin Demery: Fans (Gone with the Wind) (2021).

Als Teil des “Tiefen Südens” verdient sich South Carolina immer wieder aufs Neue den Titel eines rechten (Südstaaten-)Sumpfs. Nicht nur ist der republikanisch-konservative Staat einer der ersten, die im Nachgang an das kürzlich vom Supreme Court gekippte Grundsatzurteil “Roe vs. Wade” weitere verschärfte Änderungen der Abtreibungsrechte planen. Der Bundesstaat ist gleichermaßen für eine lange Geschichte rassistischer Gewalt bekannt.

Dabei sind das Hamburg Massacre 1876 und das Charleston Church Shooting 2015 nur zwei von zahllosen gewaltvollen Ereignissen, die unmittelbar an die rassistischen Traditionen der USA wie etwa die Jim Crow-Gesetze anschließen und damit zu einer anhaltenden Diskriminierung Schwarzer Menschen nicht nur in den US-Südstaaten beitragen. Auch George Stinney Junior wurde in South Carolina das Opfer rassistischer Politik. Im Alter von 14 Jahren und damit als jüngster Mensch überhaupt wurde er im Jahr 1944 auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet – unschuldig verurteilt, für einen Mord, den er nicht begangen hatte, in Columbia, SC – benannt nach dem wohl bekanntesten Kolonialisten.

Kevin Demery: Untitled (Wind chime) (2022). // Installationsansicht Kevi Demery “Menagerie”, Galerie Sakhile&Me, 2022.

Nun hängt er hier im Eingangsbereich der Galerie Sakhile&Me, die in ihren Ausstellungen einen Schwerpunkt auf Kunst des Afrikanischen Kontinents und seiner Diaspora setzt. Ein sogenannter „Mugshot“ ist in eine tiefschwarze Platte gefräst, unverkennbar das Profil eines Kindes. Gemeinsam mit einem Klangspiel ist Stinneys Haupt als Silhouette an einer schweren Eisenkette befestigt. Das Geräusch der aneinanderstoßenden Metallrohre hüllt den Raum ein, lässt sich nicht gänzlich ausblenden und ist doch eher diffus im Hintergrund wahrnehmbar, nichtsdestotrotz konstant anwesend, nicht abzustellen. An das Klangspiel angehängt befindet sich das Symbol eines Herzens. Es beschwert das Pendel zwischen den Rohren und ist die treibende Kraft, die es in Bewegung versetzt und damit auch zum Ertönen bringt.

Das Herz wirkt wie ein Überbleibsel des Ermordeten, der nicht nur in der Installation zum Profil verflacht wurde, das jegliche Aussagen über die Person zum Zweck der Verallgemeinerung ausblendet. Von der Justiz wurde George Stinney Junior zum gesichtslosen Typus für eine ganze, vermeintlich eindeutige Tätergruppe gemacht. Das ununterbrochene Ertönen der Stäbe hallt nach, als wolle es an das Opfer erinnern und als sollte es verdeutlichen, wie allgegenwärtig die Mechanismen dieses unrechten Apparats sind. Umgeben ist das Klangspiel von kleinformatigen Wandarbeiten, angelehnt an die hölzernen Buchstabenspiele, mit denen Kinder das Alphabet lernen. Demery nähert sich spielerisch den vielschichtigen Bedeutungen der darauf abgebildeten Worte, die durch das Herausnehmen einzelner Buchstaben und das Zusammensetzen zu anderen Worten neue Kontexte und unmissverständliche Zusammenhänge schaffen.

Kevin Demery: Untitled (Cop) (2020).

“Pinocchio” wird zu “Cop in…” Chio? oder Cop in Ohio? Die Assoziationen, die bei den Buchstaben-Collagen entstehen, müssen nicht lange gesucht werden. Knapp drei Wochen ist es her, dass Jayland Walker, ein unbewaffneter Schwarzer Mann, im Alter von 25 Jahren, von einem Polizisten mit mindestens 60 Schüssen ermordet wurde. 2020 wurde die 16-jährige Ma’Khia Bryant Opfer tödlicher Schüsse eines Polizeibeamten in Columbus, Ohio – ebenfalls benannt nach demselben Ausbeuter und Mörder, der historisch meist noch immer unkritisch als ein Held und Wegbereiter der westlichen Zivilisation gepriesen wird.

Dankbar möchte an dieser Stelle auf die 2013 gegründete Black-Lives-Matter-Bewegung verwiesen werden, die spätestens seit dem Mord an George Floyd im Jahr 2020 unnachgiebiger denn je für die Aufklärung und Verurteilung von Polizeigewalt gegen Schwarze Menschen protestiert. Denn an Beispielen für Polizeigewalt fehlt es nicht und die Liste tödlicher Übergriffe ließe sich unendlich fortsetzen.

Eine Studie von 2020, die Einsätze in Franklin County, einem Bezirk der Hauptstadt Columbus, auswertet, kommt zu einem ebenso erschreckenden Ergebnis. In dem County leben etwa 20 Prozent der Schwarzen Bevölkerung des Bundesstaates, gleichzeitig ereignen sich hier 33 Prozent der Todesfälle von Schwarzen Menschen, die von Strafverfolgungsbehörden erschossen werden. Damit zählt Franklin County zu den Orten mit der höchsten Sterblichkeitsrate Schwarzer Personen nicht nur im Bundesstaat Ohio, sondern landesweit. Dass als ein Nebenprodukt der entnommenen Buchstaben aus “Pinocchio” das Kürzel PoC als Leerstelle stehen bleibt, verweist auf die Tragik der andauernden Unsichtbarkeit der zahllosen Opfer.

Kevin Demery: Black Male (2020).

Eine weitere Buchstabentafel zeigt das Wort “Lynched”, ebenfalls eine historische Praxis, die die Langwierigkeit rassistischer Übergriffe in den USA thematisiert. Durch das Herausnehmen einiger Holzbuchstaben steht “Lynched” dem Wort “Deny” gegenüber. Mit dieser Art assoziativer Gegenüberstellung schafft Demery poetische Bezüge zwischen dem Gezeigten und Gemeinten. Der Künstler nimmt damit die Tiefe und Komplexität rassistischer Strukturen, ob durch Geschichtsvergessenheit oder aktuelle Politiken, kritisch in den Blick. “Black male” wird auf einer der Tafeln zu “blame a black male”.

Mit Auslassung lässt sich ebenfalls “blama-e” lesen. Und es ist tatsächlich eine Blamage, dass die Beschuldigung Schwarzer Männer für Straftaten egal welcher Art, unabhängig von Verdachts- oder Beweislage noch immer ein alltäglicher Gestus behördlichen Vorgehens ist. Strategien wie Racial Profiling und verdachtsunabhängige Personenkontrollen sind dabei nur die Spitze eines Eisbergs von zutiefst rassistischen Institutionen, die zu einer Aufrechterhaltung weißer Hegemonie beitragen. Oft bedarf es in diesen Fällen nicht einmal eines konkreten Täters, ist doch das Profil ­– wie auch im Falle Stinney – schon aussagekräftig genug. Versteckt unter einem der Holzteile, genauer, unter dem Herz, verleiht Demery diesen Unsichtbaren dennoch ein Bild, indem er dort eine Fotografie von sich selbst im Kindheitsalter platziert.

Kevin Demery: A is for Ancestry (2022). // Kevin Demery: B is for the Blue Line (2022).

Die Werke, die Kevin Demery bei Sakhile&Me zeigt, stellen scharfsinnige Beziehungen zueinander her. Handeln sie umfassend von einer Kritik an der Gewalt gegen Schwarze Menschen, so ist auch das Thema der Kindheit und der kindlichen Traumata ein zentrales Moment in seinen Arbeiten. Nicht nur durch das Verfremden von Spielzeug, sondern auch durch das Abbilden von Kindern, zeigt Demery die Kontinuitäten rassistischer Gewalt und wie diese selbst die Unschuldigsten trifft.

Eine weitere Werkreihe, die das “ABC” aufgreift, zeigt den Ausschnitt einer ikonischen Fotografie, die von Rowland Scherman auf dem Washington March 1963 angefertigt wurde. Bei Demery abgebildet als Acetondruck ist hier Edith Lee-Payne zu sehen. Stärke und Ernsthaftigkeit sind der damals 12-Jährigen ins Gesicht geschrieben. Demery kombiniert in seiner Serie das Abbild des Mädchens mit symbolischen Fragmenten und jeweils einem Buchstaben: “A is for Ancestry”, “B is for the Blue Line”, “E is for Erasure”, lauten ihre Titel. Die Serie wirkt, als machte es sich der Künstler zur Aufgabe, durch das Zusammenführen der Buchstaben und Objekte in neue innerbildliche Kontexte, zu zeitgenössischen Allegorien ein aufgeklärtes Geschichtsbewusstsein zu lehren. Durch die Fragmentierung der Motive wirken die Arbeiten wie Gedankencollagen, die durch Hinzunahme der Titel auf Defizite und damit auch auf das verweisen, was in ihnen nicht abgebildet ist.

Installationsansicht Kevi Demery “Menagerie”, Galerie Sakhile&Me, 2022. // Kevin Demery: E is for Erasure (2022).

Links neben der als Triptychon präsentierten Reihe befindet sich ein kleinerer Acetondruck, ebenfalls im Hochformat. Zu sehen ist das fragmentierte Bild eines jungen Mädchens, das eine Treppe hinunterläuft. Umgeben von zwei männlichen Körpern wirkt es zwischen ihnen winzig. Bei dem dokumentarischen Motiv, wie bei vielen Fotografien, die Demery in seiner Kunst verarbeitet, handelt es sich ebenfalls um eine Szene, die hohe mediale Verbreitung erfuhr. Es handelt sich hierbei um Ruby Bridges auf dem Weg zur Schule.

Als eines der ersten Schwarzen Kinder, das eine öffentliche Grundschule besuchen durfte, musste Bridges 1960 von vier Bundesmarschallen dorthin eskortiert werden. Empfangen wurde das 6-jährige Mädchen von einer aufgebrachten Meute, die das Kind beschimpfte und attackierte. Die Schule blieb an diesem Tag leer, denn die Eltern ließen ihre Kinder aus Protest gegen die aufgehobene Segregation zuhause bleiben. Demery greift in dieser Arbeit das Motiv eines Kindes auf, das als Symbol für die Unschuld verstanden werden kann, und verdeutlicht daran die Irrationalität rassistischer Übergriffe, die eben nicht auf Grundlage von Taten zu Gewalt an Schwarzen Menschen führt, sondern aus dem bloßen Umstand rührt, nicht weiß zu sein.

Kevin Demery: Untitled (Menagerie) (2022).

Auch auf der gegenüberliegenden Wand befinden sich Drucke, die mittels der Aceton-Transfer-Technik hergestellt wurden. Wie das Bild von Ruby Bridges sind sie in den Farben Gelb, Blau und Grau gehalten. Als symmetrisches Raster, allerdings im Querformat, sind hier insgesamt 40 Drucke angelegt in einer Ordnung von zehn Motiven auf vier Reihen arrangiert. Sie zeigen verschiedene Szenen, die die Lebensrealität Schwarzer Menschen in den USA abbilden. Alle Motive entnimmt Demery aus Fremdmaterial, vor allem aus Zeitungen und medialen Berichten über Proteste, polizeiliche Ausschreitungen und Festnahmen sowie historische Ereignisse. Vereinzelt sind alltägliche Szenarien zu sehen, private Fotos, spielende Kinder, und Portraits.

Die Wand füllende Collage aus Acetondrucken wirkt in ihrer Gesamtheit überaus filmisch, fast wie ein Wandteppich aus Gedankenblitzen oder Assoziationsketten, die als kurze Momente aufscheinen und sich in ihrer Kurzlebigkeit sofort wieder verflüchtigen. Die Komposition lässt an die Art von Berichterstattung denken, wie sie gegenwärtig auf Social-Media-Plattformen wie Instagram und Tiktok zu finden ist: kurze Fragmente brachialer Gewalt, die – sobald sie gesehen sind – wieder in Vergessenheit geraten. Im Unterschied dazu hält Demery diese Einzelmomente fest, verleiht ihnen Dauerhaftigkeit durch das Konservieren im Druck hinter Glas.

Kevin Demery: Untitled (Menagerie) (2022).

Einige der Drucke zeigen ausradierte Gesichter, der durch rassistische Gewalt Verstorbenen, aber auch Fotografien der Angehörigen der Opfer, etwa von George Floyd und Emmett Till. Sie verdeutlichen, dass es sich bei den gewählten Motiven eben nicht um historische Abbildungen handelt, sondern um solche, die in die Gegenwart hineinreichen. Demery zeigt Personen, die mit dem Verlust leben, ebenso wie mit der Erfahrung von Gewalt und Diskriminierung. Ruby Bridges ist heute gerade einmal 67 Jahre alt. Es ist fatal, so untermauert es der Künstler durch seine Werke, die gesellschaftlichen Bedingungen für Gewalt und Diskriminierung in der Vergangenheit zu verorten, sind sie doch noch immer ein aktiver Teil der politischen Landschaft und erlangen durch globale Alt-right-Bewegungen, etwa auch der AfD in Deutschland, neue Salonfähigkeit. 

Im letzten Raum der Ausstellung präsentiert Demery die Werkserie „Fans (Gone with the Wind)“ von 2021, die dennoch auf die Emanzipation und Überwindung der bestehenden Verhältnisse hoffen lässt. Kevin Demery konzipiert seine “Fan”-Kollektion angelehnt an die Plastikfächer, die in Kirchen ohne Klimaanlage verteilt werden und auf denen häufig Werbung platziert ist. Sie werden ihrer Bezeichnung in mehrerlei Hinsicht gerecht, denn handelt es sich bei ihnen zwar buchstäblich um “Fans”, zu deutsch Fächer. So kommt den darauf statt Werbung abgebildeten Personenportraits eine Bedeutungsebene zu, die Demery selbst als einen Fan, einen Bewunderer der Dargestellten nämlich, vermuten lässt.

Kevin Demery: Fans (Gone with the Wind) (2021).

Die Fächer, die von den Besucher:innen der Schau weitgehend frei platziert und umgestellt werden können, bilden zentrale Persönlichkeiten der Schwarzen Geschichte und Emanzipation ab, etwa der Bürgerrechtsbewegung, der Literatur, der Popkultur und Politik. Die Reihe beginnt mit der Schauspielerin Hattie McDaniel, die zwar als erste Schwarze Person einen Oscar gewann, für ihre Darbietung als “unterwürfige” Sklavin jedoch ihrerseits scharfe Kritik seitens der Bürgerrechtsorganisation NAACP erntete. Von McDaniel leitet sich ebenfalls der Titelzusatz der Serie ab.

Der Film „Vom Winde verweht“ selbst geriet bereits früh und wiederholt für die darin gezeigte Romantisierung und Verharmlosung der Sklaverei in den Antebellum-Südstaaten in Kritik. Das führte schließlich dazu, dass der Film heute bei Ausstrahlung und Vertrieb mit einer fast halbstündigen Einführung versehen ist, in welcher Historiker:innen diesen Geschichtsrevisionismus reflektieren. Die Reihe, die aus insgesamt 14 ausgestellten Fächern besteht, zeigt neben Hattie McDaniel, zahlreiche Bürgerrechtler:innen, namentlich Angela Davis, Fannie Lou Hamer, Fred Hampton, Martin Luther King, John Lewis, Kwame Ture und Malcolm X sowie die Gründungsmitglieder der Black Panther Party Bobby Seale und Huey Newton.

Kevi Demery: Fans (Gone with the Wind) (2021). // Installationsansicht Kevi Demery “Menagerie”, Galerie Sakhile&Me, 2022.

Auch der Schriftsteller James Baldwin sowie die ehemaligen US-Präsidenten John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson sind mit Portraits vertreten. Einige wenige der Fächer sind in Paaren angelegt: so ist etwa auch James Earl Ray Teil der Reihe und immer neben MLK platziert, als sein Mörder und in diesem Sinne, wie ein Schatten, der nicht von ihm zu lösen ist. Ihrer aller Lebensläufe in einem Review gerecht werden zu wollen, wäre nichts als vermessen. Es zeigt jedoch, wie viel informiertes Wissen Demery in seine Kunst einfließen lässt, die trotz der bloß in Bildern festgehaltenen Verweise zur tieferen Beschäftigung anregt. Deshalb lohnt es nicht nur, die Ausstellung zu besuchen, sondern auch jene Personen, denen die Arbeiten gewidmet sind, durch eigene Recherche zu würdigen.

WANN: Die Ausstellung “Menagerie” von Kevin Demery läuft noch bis Samstag, den 23. Juli.
WO: Sakhile&Me, Oberlindau 7, 60323 Frankfurt am Main.

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