Jackfrucht Schneiden und Hände Zeigen
Yu Ji im CCA Berlin

3. Mai 2023 • Text von

Eine zögernde Hand, ein einladendes Zuwenden, eine schüchterne Berührung. In unserer vornehmlich von audiovisuellen Reizen abhängigen Welt können Gestik und Körper mehr ausdrücken, als manch eine*r zu denken vermag – wenn wir nur genau hinschauen. In den neuen Arbeiten der Künstlerin Yu Ji, die derzeit im CCA Berlin ausgestellt sind, bedeutet das Einfangen von Gesten vor allem ein Herantasten an ein temporäres Zuhause. (Text: Clara Tang)

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Yu Ji, Miss Shell, Delta, and Two Noughts, installation photos, CCA Berlin, 2023. Photos: Diana Pfammatter/CCA Berlin.

Beim Eintreten durch die kleine Tür der einjährigen Berliner Institution Center for Contemporary Arts (CCA) ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich, um was für eine Ausstellung es sich bei “Miss Shell, Delta, and Two Noughts” der Künstlerin Yu Ji handelt. Die Ruhe im sparsam kuratierten, offenen Raum, der kryptische Titel (übersetzt “Muschel, Delta und Zweimal Nichts”) und die durch die Ausstellung leitende, deckenhohe milchige Folie versetzen Besucher*innen in einen verlangsamten Zustand der Betrachtung – einmal durchatmen, und dann entlang tasten.

Fünf zweiteilige Schwarz-Weiß-Fotografien auf Papier hängen zur Linken des Eingangs. Die Serie “The Third Hand” zeigt Hände aus der Vogelperspektive: Hände, die im Zement rühren, Hände beim Obstschneiden, Hände beim Essen. Teilweise werden die Ausdrucke von Transparentpapier überlagert und mit Bleistift überzeichnet, andere durchsichtige Bögen sind mit flüchtigen Notizen beschriftet und gefühlt provisorisch zwischen die Bilder an die Wand geklebt.

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Yu Ji, Miss Shell, Delta, and Two Noughts, installation photos, CCA Berlin, 2023. Photos: Diana Pfammatter/CCA Berlin.

Das zentrale Foto sticht hervor: ein mit Plastikfolie ausgelegter Boden, drei Personen und sechs Hände, die eine Jackfrucht in Stücke schneiden. Das körnige Bild offenbart einen familiären Moment des Zusammenkommens, des Muskelgedächtnis von Händen, die schon oft die stachelige Frucht zerteilt und entkernt haben. Am rechten Ende der Fotoserie hängt das einzig zeitlich zuordbare Bild. Neben einem gedeckten Tisch erspähen Betrachter*innen den Sohn der Künstlerin, den Daumen am Mund, neben ihm unter dem mit Sommerrollen gefüllten Teller das Programm der jüngsten Edition der Berlinale.

Die in Shanghai geborene Künstlerin Yu ist dieses Jahr für drei Monate in Berlin und produziert hier neue Arbeiten im Kontext der erstmals vergebenen Residency des CCA. Im Zentrum ihrer neuen Werke steht die Frage nach Ungewissheit: Ihre künstlerische Praxis ist oft orts- und materialabhängig. Familie und Arbeitsumfang müssen sich an örtliche Gegebenheiten anpassen, Stabilität am Arbeitsplatz ist für die Installationskünstlerin, die aus China zu Ausstellungen und Residencies reist, eine zeitlich begrenzte Sache.

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Yu Ji, Miss Shell, Delta, and Two Noughts, installation photos, CCA Berlin, 2023. Photos: Diana Pfammatter/CCA Berlin.

Die große Frage nach der Vereinbarkeit von künstlerischem Schaffen und Familie versucht Yu mit kleinen, experimentelle Arbeiten zu beantworten. “Two Noughts”, zwei kleine Videoprojektionen im Zentrum des Ausstellungsraums, erörtern Deutungshoheit und Gehalt der filmischen Gesten. Die stummen Bewegtbilder, gefilmt durch eine selbstgebastelte Glaslinse, zeigen die verschwommenen Hände von Yus Sohn im Halbdunkel, wie sie Blütenblätter sortieren. Als außenstehender Zuschauer*in stellt sich die Frage nach dem Titel: Ist das wirklich “Zweimal Nichts”? Die eifrigen Kinderfinger antworten nicht, sie sind mit der Blume beschäftigt.

Der private Einblick in das Heim der Künstlerin und die Erkundung der Beziehung von Mutter und Kind verstärkt sich in drei skulpturalen Arbeiten am Boden. Von der Wand losgelöst, stolpert man fast über zwei Skulpturen am Boden, “Flesh in Stone – Anthropos III-V” und “Ghosts No. 8″, einem Torso auf einer Tischinstallation.

Die Muschel-artige Form von “Anthropos III”, ein offen modellierter, kopf- und armloser Oberkörper, wird durch eine Kinderhand aus bläulichem Silikon ergänzt, die an einem, den großen Körper durchdringenden Metallstab befestigt ist. “Anthropos V” hingegen lehnt an der zentralen Säule des Raums und will, einen verkürzten Arm von sich gestreckt, buchstäblich mit dem – fehlenden – Kopf durch die Wand. Der Ausstellungstext verhilft zur Erkenntnis: Die beiden Torsi, wie auch der hochschwangere Oberkörper von Anthropos IV im hinteren Teil des Raums, sind an Freundinnen, Bekannten und dem Sohn der Künstlerin entstanden. Das Skulpturformen wird zu einem kollektiven Akt des Frau- und Mutterseins.

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Yu Ji, Jadeite Joint No.1, 2021. Courtesy the artist.

Yus Berliner Körperzyklus schließt an ihre bekannte Langzeitserie an, in der sie Torsi aus Beton und Metall schafft, die von Überresten antiker asiatischer Figuren inspiriert sind und Material, Permanenz und Körperlichkeit untersuchen. Yu Ji machte 2011 ihren Abschluss in Bildhauerei an der Shanghaier Kunstuniversität und erlangte seitdem besonders durch ihre reduzierten, interdisziplinären Installationen aus Rohmaterial wie Metall, Holz und grauem Beton internationale Bekanntheit.

Anders als ihre bisherigen massiven Skulpturen experimentiert die Künstlerin in Berlin im Kontext der dreimonatigen Residency am CCA nun mit der kontinuierlichen Formbarkeit und Veränderung von weichem Material in ihren Werken. Erneutes Handanlegen im Verlauf der Ausstellung macht die Verletzlichkeit des Materials Gips und Ton sichtbar; die Abgüsse werden zu einem gemeinsamen, weiblichen Körperselbstverständnis im Wandel. 

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Yu Ji, Miss Shell, Delta, and Two Noughts, installation photos, CCA Berlin, 2023. Photos: Diana Pfammatter/CCA Berlin.

“Miss Shell, Delta, and Two Noughts” wirkt wie ein Innehalten, ein Luftholen und Hinterfragen in Yu Jis Schaffen. Die kleine Ausstellung ist ein stilles Festhalten der Jetzt-Zeit der Künstlerin und scheint durch ihre andauernde Veränderung und den offenen, mit Folien behangenen Raum einem intimen Studiobesuch gleich.

Fragen nach Vergänglichkeit und Ungewissheit bleiben offen. Stattdessen wird gegessen, gespielt, kreiert, und wenig erklärt. Der Ausstellungstitel wird zum Spiel: Wer würfelt Muschel, Delta oder Zweimal Nichts? Spielregeln gibt es keine. Mit familiären Handgemengen und weichen Frauenfiguren entwickelt Ji im CCA einen spielerisches, mütterliches Vokabular dafür, die Ungewissheiten des Transits zu überbrücken und lädt Besucher*innen dazu ein, sie und ihre gewählte Familie dabei zu begleiten.

WANN: Die Ausstellung “Miss Shell, Delta, and Two Noughts” läuft noch bis zum 24. Juni.
WO: CCA Berlin – Center für Contemporary Arts, Kurfürstenstraße 145, 10785 Berlin.

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