Pittoreske Zeitreise
"Jeden kleinen Finger, sogar" von Sarah Buckner bei Esther Schipper

10. November 2023 • Text von

Sarah Buckner nimmt uns in der neuen Ausstellung “Jeden kleinen Finger, sogar” bei Esther Schipper mit auf eine Zeitreise – die Künstlerin bedient sich traditioneller Herstellungsweisen in der bildenden Kunst und interpretiert sie auf komplexe Weise neu. Sie bringt mythische Gestalten, literarische Heldinnen und reale Personen in traumähnlichen Szenarien auf die Leinwand.

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Exhibition view: Sarah Buckner, Jeden kleinen Finger, sogar, Esther Schipper, Berlin, 2023, Courtesy the artist and Esther Schipper, Berlin/Paris/Seoul, Photo © Andrea Rossetti.

Betritt man den großen Ausstellungsraum bei Esther Schipper, offenbart sich eine gedämpfte Farb- und Traumwelt auf den Leinwänden. In der ersten Einzelausstellung von Sarah Buckner mit der Galerie “Jeden kleinen Finger, sogar” sind die Werke lose über die Wände des Raumes verteilt, von Groß- bis Kleinstformaten. Die Werke zeigen mehr oder weniger deutliche Figuren, von denen die meisten als weiblich gelesen werden können und von denen einige aus der Zeit gefallen zu sein scheinen. Hier und da lassen sich auch nur vage Formen oder einzelne Körperteile inmitten eines erdigen Farbgemischs erahnen.

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Exhibition view: Sarah Buckner, Jeden kleinen Finger, sogar, Esther Schipper, Berlin, 2023, Courtesy the artist and Esther Schipper, Berlin/Paris/Seoul, Photo © Andrea Rossetti.

Die Figuren, die Sarah Buckner malerisch festhält, entstammen zum Teil der griechischen und römischen Mythologie, zeigen zum Beispiel literarische Heldinnen wie Penelope, die von Homer beschriebene Gattin des Odysseus, oder Vergils phönizische Prinzessin Dido, die sich in den trojanischen Helden Aeneas verliebt und eine leidenschaftliche Affäre mit ihm hat. Andere Figuren entstammen der Realität, ihrer Umgebung, die in der Fantasie der Künstlerin transformiert und mit Bedeutungen aus ihrem Leben versehen werden.

Betrachtet man die Figuren von Sarah Buckner genauer, so erkennt man auch an der Kleidung, dass es sich nicht ausschließlich um Menschen und Wesen aus unserer Zeit handelt, sondern ihre Geschichten weiter zurückreichen. Andere wiederum könnten durchaus im Jahr 2023 durch die Großstadt laufen, wieder andere sind völlig nackt dargestellt. Alle Arbeiten bei Esther Schipper vereinen Lebewesen, die in unterschiedlichen Konstellationen und Situationen auf den Leinwänden versammelt sind. Wie in einem Traum findet sich auch hier eine Widersprüchlichkeit, die schwer zu fassen ist – auch für die Künstlerin selbst.

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Exhibition view: Sarah Buckner, Jeden kleinen Finger, sogar, Esther Schipper, Berlin, 2023, Courtesy the artist and Esther Schipper, Berlin/Paris/Seoul, Photo © Andrea Rossetti.

Die literarischen Bezüge im Werk der Künstlerin entspringen eher ihrer eigenen Emotionalität als realen Motivquellen, was sie auf den ersten Blick nicht unbedingt identifizierbar macht. Sowohl die Figuren als auch die anderen Motive, die Sarah Buckner darstellt, scheinen eine Art “Zwischenzustand” zu visualisieren, einen winzigen Ausschnitt einer Erzählung, auf den wir nur einen kurzen Blick werfen dürfen. Manche Stellen sind sehr präzise dargestellt, andere Bildausschnitte lassen sich nur erahnen und vermitteln nur Andeutungen, die wie bewusste Auslassungen wirken. Dieser “Zwischenzustand” findet sich somit auch in der Malweise der Künstlerin wieder.

Wichtig für das Werk von Sarah Buckner ist auch die Herstellungsweise ihrer Bilder – nicht nur die Motive vermitteln eine Vorstellung von Vergangenheit, sondern auch das künstlerische Vorgehen stellt Bezüge zu alten Traditionen der bildenden Kunst her. Viele ihrer Farben mischt die Künstlerin selbst aus reinen Pigmenten oder gemahlenen Mineralien wie Malachit oder Lapislazuli, um ihren Bildern einen opalisierenden Schimmer zu verleihen. Die feine Kreide, die sie verwendet, gibt dem Bild eine cremige Textur und erzeugt eine glatte, matte Oberfläche. Die Traumassoziation setzt sich im künstlerischen Prozess fort und lässt die Künstlerin und das Publikum in Erinnerungen an traditionelle Verfahren schwelgen.

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Exhibition view: Sarah Buckner, Jeden kleinen Finger, sogar, Esther Schipper, Berlin, 2023, Courtesy the artist and Esther Schipper, Berlin/Paris/Seoul, Photo © Andrea Rossetti.

Farbe, Textur und Form gehen in den Arbeiten der Künstlerin ein spannendes Zusammenspiel ein, das näher betrachtet werden will. Sie trägt das Material wie ein dickes Impasto auf, ohne genau zu wissen, wie es sich auf der Leinwand verhalten wird. So wohnt ihren Arbeiten immer eine Unvorhersehbarkeit, ein plötzliches Überraschungsmoment inne. Die Arbeiten von Sarah Buckner nehmen direkten Bezug auf eine uralte Tradition der Mal- und Zeichengeschichte, von der Höhlenmalerei bis zur klassischen Freskomalerei.

Sarah Buckner spielt mit den vielfältigen Eigenschaften der verwendeten Materialien und lässt sich bewusst auf unerwartete Wechselwirkungen mit anderen Farben und Strukturen ein. Auch wenn diese zu Beginn in ihrer tatsächlichen Ausführung noch nicht feststehen, sind sie doch fest in die Arbeitsweise der Künstlerin eingeschrieben. Ihre Arbeiten stellen im Heute eine Verbindung zum Gestern her und lassen uns als Betrachter*innen an einer malerischen Zeitreise teilhaben, die sowohl inhaltlich als auch visuell eine vage Vorstellung vergangener Tage evoziert.

WANN: Die Ausstellung “Jeden kleinen Finger, sogar” läuft bis zum 2. Dezember 2023.
WO:
Esther Schipper, Potsdamer Straße 81E, 10785 Berlin.

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