Minerva trägt Politcamouflage
Cemile Sahin bei Esther Schipper

25. September 2021 • Text von

Der Vertrag von Sèvres markierte die Auflösung des Osmanischen Reichs. Während der Vertragsunterzeichnung war auch Minerva, Göttin der Weisheit, vor Ort. Allzu viel Verstand brachte dies den Kolonialmächten aber nicht. Cemile Sahin erfindet bei Esther Schipper eine neue Minerva, die politische Geschichte und Popkultur vereint.   

Installationsansicht, Cemile Sahin, It Would Have Taught Me Wisdom, Esther Schipper, Berlin, 2021 Courtesy the artist and Esther Schipper, Berlin. Foto © Andrea Rossetti

Sie trägt eine drapierte – ihren Körper zu einem unförmig, aber dennoch paradox förmigen Oval modellierende – Tunika in einem Camouflage Muster. Dazu metallisch reflektierende Sandalen mit passender Lanze, die ähnlich opak und von einem kaum sichtbaren glühend leuchtendem Schein umgeben ist. Sie, die übrigens Minerva ist, bildete Cemile Sahin in fünffacher Ausführung als UV-Prints auf Autofolie ab, die an azurblauen Acrylglas-Stangen hängen. Die römische Göttin der Weisheit, Kriegsführung, Kunst, des Schiffsbaus und Hüterin des Wissens, vereint in Sahins Ausstellung „It Would Have Taught Me Wisdom“ bei Esther Schipper einschneidende Geschichtlichkeit mit multimedialen Aktualitäten. 

Hinter den fünf flachen Print-Skultpuren befindet sich eine Wandarbeit, die einen schwarzweißen Print der Unterzeichnungszeremonie des Vertrags von Sèvres, die am 10. August 1920 stattfand, zeigt. Der zu den Pariser Vorortverträgen gehörende Vertrag wurde zwischen den Siegermächten des Ersten Weltkrieges – Frankreich, Italien, Japan und das Britische Empire sowie den „associated Powers“, bestehend aus Polen, Portugal, Rumänien, Belgien und anderen – und dem Osmanischen Reich geschlossen. Der Diktatfrieden sah die Aufteilung des Gebietes der heutigen Türkei vor, bei dem das damalige Osmanische Reich einen Großteil seines Gebietes abtreten sollte – was gleichzeitig auch dessen Ende bedeutete. De facto wurden die Klauseln des Vertrages wegen des türkischen Widerstandes aber nie umgesetzt und später im Vertrag von Lausanne im Sinne der Türken revidiert. Sahins aktuelle Arbeit basiert auf Recherchen zu diesen beiden Verträgen. 

Installationsansicht, Cemile Sahin, It Would Have Taught Me Wisdom, Esther Schipper, Berlin, 2021 Courtesy the artist and Esther Schipper, Berlin. Foto © Andrea Rossetti

Die große Wandarbeit überspannt der Textzug: „THAT I DID NOT RECEIVE IN TIME THIS FRENCH MINERVA IT WOULD HAVE TOUGHT ME WISDOM“. Die grellen orangen Buchstaben sind von einem gelben, dünnen Schein ummantelt. Ähnlich wie bei Minervas Lanze, erinnert dieses dezente Scheinen an eine subtile Form einer heiligen Aura. Während der Vertrag von Sèvres unterzeichnet wurde, stand eine Porzellanstaue der Göttin Minerva auf dem Tisch – die Camouflage Tunika trug sie vor mehr als 100 Jahren aber vermutlich nicht.

Minervas oversized Kleidung, die aber dennoch eine ganz bestimmte rundlich fließende Form kreiert, erinnert an einen weiten tarngrünen Gucci-Zweiteiler, den das junge weibliche Ausnahmetalent Billie Eilish im Jahr 2020, 100. Jahrestag des Vertrags von Sèvres, auf den Billboard Music Awards trug. Im gleichen Jahr gewann sie bei den Grammys als erste weibliche Künstlerin in allen vier Hauptkategorien Preise und prägt außerdem maßgeblich eine neue Generation, für die die Bedingung für weiblichen Erfolg in der Popkultur nicht nackte Haut ist. 

Installationsansicht, Cemile Sahin, It Would Have Taught Me Wisdom, Esther Schipper, Berlin, 2021 Courtesy the artist and Esther Schipper, Berlin. Foto © Andrea Rossetti

Auf die gleiche Art und Weise spielt auch Sahin mit ihrer auf einem 3D-Modell basierenden Minerva, die technisch futuristischen Sandalen, erinnernd an die avantgardistisch, utilitaristische Ästhetik des skandinavischen Labels Heliot Emil, mit sich selbst als Ur-historisches Subjekt verschmilzt. Sie ist im Kontext der Ausstellung Zeitdokument (männlicher) Kolonial- und Gewaltherrschaft, befindet sich aber im Hier und Jetzt autonom im Raum, behauptet sich vor den alten weißen Männern im Hintergrund und verdeckt diese größtenteils, wenn man vor der Installation steht. 

Installationsansicht, Cemile Sahin, It Would Have Taught Me Wisdom, Esther Schipper, Berlin, 2021 Courtesy the artist and Esther Schipper, Berlin. Foto © Andrea Rossetti

In ihrer Praxis verbindet die Künstlerin häufig Text und Bild, während sie auch mit Film und Fotografie arbeitet. Gleichzeitig mischt sie in ihre Arbeiten geschichtliche und politische Referenzen, greift dabei aber auch zeitaktuelle Entwicklungen auf. Die Kombination von Schrift und Bild erinnert an den Künstler Ed Ruscha, der vor allem für seine „Textgemälde“ bekannt ist. Ähnlich wie Ruscha erreicht Sahin durch das Zusammenspiel von Textualität und Visualität mit ihren Arbeiten eine besondere Stahlkraft. Sie vereint zwei verschiedene Medien, die auch autonom schon schwerwiegend sind und verleiht ihren Arbeiten dadurch eine noch weitreichendere gedankliche Schwere. Man sieht sich nicht lediglich einen Print an, der die Vertragsunterzeichnung zeigt, sondern ist gleichzeitig mit einer – wie auch immer – prägenden Aussage konfrontiert. Was hätte dir Weisheit gelehrt? Hätte Minerva sie wirklich lehren können? Sie war schließlich da – wenn auch nicht in Camouflage. 

WANN: Die Ausstellung läuft noch bis Donnerstag, den 30. Oktober. 
WO: Esther Schipper, Potsdamer Str. 81e, 10785 Berlin. 

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