Gefallene Heldenfiguren in Venedig
Kehinde Wiley auf San Giorgio Maggiore

6. Mai 2022 • Text von

Es ist eine kurze Bootsfahrt nach San Giorgio Maggiore, aber nur wenige Besuchende der 59. Venedig Biennale verirren sich hierher. Doch der Abstecher zur kleinen Insel gegenüber der venezianischen Hauptinsel lohnt sich. Vorbei an der pompösen, gleichnamigen Kirche mit spektakulärem Ausblick über die venezianische Bucht verbirgt sich in der Fondazione Giorgio Cini eines der offiziellen kollateralen Events der Biennale: Kehinde Wiley untersucht die “Archäologie der Stille”.

Kehinde Wiley, The Virgin Martyr Cecilia, 2022, bronze, 66 × 388 × 178 cm.

Die Säle der Fondazione Giorgio Cini liegen im Dunkeln, nur wenige Spots beleuchten die im Raum verteilten monumentalen, zeitgenössischen Bronzen. Das weiche, gezielt gerichtete Licht umschmeichelt zart die gefallenen, schwarzen Körper, die sich aus ebenso schwarzem, scharfkantigem Grund erheben. In dramatischer Pose lagern sie auf dunklen Felsenpodesten, schlingen sich Blumenranken um ihre Glieder, die – so scheint es – schon ewig regungslos niedergestreckt liegen, wie schlafend aufgebahrt, doch allesamt im Tode begriffen. Ein mancher bäumt sich beinah ekstatisch ein letztes Mal auf, versucht mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze, dem Unausweichlichen zu entgehen. Allansichtig lassen sich die Plastiken umrunden, sich aus Ferne wie Nähe betrachten, lässt sich jedes aus dem Dunkel des Materials gehobene Detail genau inspizieren. Gleich einem Grabstichel macht das geführte Licht jeden einzelnen Muskel erkennbar, wird jede Falte im Stoff, jedes gekrauste Haar und jede noch so unscheinbare Rille an den beturnschuhten Füßen sichtbar.

Kehinde Wiley, Sleep (Mamadou Gueye), 2022, bronze, 30 × 130 × 54 cm.

Die Monumente werden von ebenso großformatigen Porträts in Ganzkörperansicht hinterfangen. Ebendiese gefallenen Körper liegen jetzt auf weichem, sattgrünem Gras wie auf Teppichboden, sind umgeben von einer Tapete aus goldenen, floralen Ornamenten, die aus der gemusterten Wand als echte Blumen ins Bild ragen, sich bunt von Haut und Kleidung der Gefallenen abheben. Manch andere Figur liegt auf blütenweiße Laken gebettet, vor prunkvoller Tapete, deren Blumen von unten ins Bild hineinwachsen. Wie im Dornröschenschlaf begriffen, wird der Körper von wild wuchernden Gewächsen gerahmt, umrankt und eingeschlossen.

Kehinde Wiley, Sleep, 2022, oil on canvas, 151,5 × 274 cm.

Mit ernstem Gesicht und wissenden Augen blickt uns einer der Porträtierten an. Ein junger Mann sitzt aufgestützt im Blumenmeer, den glänzenden Pfeil noch in der Hand. Ein anderer liegt mit hochgerutschtem Kapuzenpullover am Boden, die Arme in abwehrender Haltung vor das Gesicht geführt. Manchmal sind es zwei Menschen, deren leblose Glieder schwer übereinander lasten oder aber ein gekrümmter, ein verdrehter Körper, dessen Gesicht nach unten gerichtet im Staub verharrt. 

Kehinde Wiley, Death of Two Soldiers, 2022, bronze, 24,5 × 136 × 89 cm.

Im letzten Raum der Ausstellung ist es eindeutig: die Reminiszenz an Holbeins 1521/22 in Öl gemalten “Der Leichnam Christi im Grabe”. Vorher schon in der Bildsprache allgegenwärtig, ist sie nun in der beinah genauen Adaption des historischen Vorbilds unweigerlich offenbar. “Sophie Ndiaye” und “Babacar Mane” besagen die Inschriften, die in großen goldenen Lettern über den seitlich geöffneten, steinernen Grabnischen prangen. Ganz still, bewegungslos liegen die Bezeichneten darin, ihre Köpfe zueinander gebettet, von oben dramatisch beleuchtet. Nicht weit davon entfernt, in der Mitte des Saales ragt ein Pferd mit glänzenden Augen und geöffnetem Maul inmitten größter innerer wie äußerer Spannungshaltung in die Höhe, so realistisch wie es ein echtes kaum besser vermochte. Sich aufbäumend hebt es einen Huf und ist scheinbar mitten in der Bewegung verharrend gefangen. Im Sattel ein menschlicher Körper, jedoch nicht sitzend, sondern liegend als hätte sich ein Sterbender mit letzter Kraft auf sein Pferd gerettet. Übergroß lassen sich Mensch und Tier in Untersicht zwangsläufig ehrfürchtig betrachten. 

Kehinde Wiley, Young Tarentine (Mamadou Gueye), 2022, bronze, 94 × 434 × 157 cm.

Kehinde Wiley zeigt in “An Archaeology of Silence” die gefallenen Heldenfiguren unserer Zeit. Es sind Heldenfiguren, die Turnschuhe tragen und Jeans, Heldenfiguren in Cap und Adidas-Shirt. Nicht nur Männer sind es, sondern auch Frauen. Helden und Heldinnen, die normalerweise nicht auf einen Sockel gehoben werden, deren Antlitz nicht in Stein gemeißelt wird, weil es zu Schwarz und zu alltäglich ist. Mit der Reminiszenz an Holbein und die abendländische Denkmalkultur knüpft Wiley augenscheinlich an die Tradition der Darstellung gefallener Krieger an. Wo besser als in Venedig könnten großformatige Porträts und Monumente verortet sein? Und wer besser als Christophe Leribault, Präsident des Musée d’Orsay, könnte solch eine Ausstellung kuratieren, ist sein Spezialgebiet doch die Kunst des 19. Jahrhunderts? Zugleich konterkariert Wiley aber den vor allem weißen, männlichen und westlichen kunsthistorischen Umgang mit Gedenken. Die Bildsprache der Darstellung spiritueller Ikonen, Märtyrer und Heiliger wird auf das Heute umgedeutet, indem Geschlecht, Hautfarbe und Stand kein Ausschlusskriterium mehr für diese Art der Repräsentation sind. Der Künstler füllt die Lücken in unserem kollektiven, lange Zeit in Stein gemeißelten Gedächtnis und stürzt mit seinen Monumenten von historisch exkludierten Gruppen die alten Denkmale als überkommen vom Sockel.

Kehinde Wiley, Morpheus, 2022, détail, bronze, 68 × 150 × 75 cm.

Gleichsam schön und schmerzvoll sind die gefallenen Helden und Heldinnen von Kehinde Wiley. Als Meister des zeitgenössischen Porträts, aus dessen Pinsel nicht zuletzt das Präsidentenporträt Obamas stammt, weiß der Künstler seine Gefallenen in Szene zu setzen. Manchmal wie schlafend, manchmal verdreht und kauernd lässt sich ihr Leid mit den Augen ganz haptisch betasten, blicken die Besuchenden unweigerlich zu den Dargestellten auf, auch wenn sie sich zumeist über die Liegenden herabbeugen müssen. Schrecklich schöne Elegien sind es, die von Widerstand, Polizeigewalt und staatlicher Kontrolle berichten, die wehmütig machen und gleichsam anklagen. Warum sind wir noch immer stumm angesichts all dessen? Die Ausstellung knüpft an Wileys Serie “DOWN” aus dem Jahr 2008 an und zeigt, dass sich auch ein Jahrzehnt später nicht viel verändert hat. Ganz praktisch lassen sich gemusterte Jacken und Tücher im Shop der Ausstellung erwerben, deren generierte Einnahmen dem 2019 in Dakar vom Künstler ins Leben gerufenen Artist in Residence-Programm “Black Rock Senegal” zugutekommen.

Kehinde Wiley, The Wounded Achilles, 2022, Oil on canvas, 178 × 274 cm.

Gleich einem Archäologen tief eingegraben in die abendländische Denkmalkultur, holt Wiley die Passion der gegen koloniale Strukturen aufbegehrenden jungen, Schwarzen Menschen ans Licht. Die Schau fügt sich ins Programm einer Biennale, die in Vergangenheit wie Gegenwart nach Momenten des Aufbruchs sucht, die Probleme unserer Zeit adressiert und mit Länderpavillons wie dem britischen bisher ungehörte Geschichten hör- und erlebbar macht. Kehinde Wileys “An Archaeology of Silence” erzählt die Geschichte derer, die still sind, weil sie ihre Stimme erhoben.

WANN: Die Ausstellung läuft noch bis Sonntag, den 24. Juli.
WOFondazione Giorgio Cini, Sale del convitto, Isola di San Giorgio Maggiore, 30133 Venedig (von “San Zaccaria” mit dem Vaporetto Linie 2 bis “San Giorgio”).

Wenn ihr mehr über die 59. Biennale erfahren möchtet, findet ihr hier Daniela Graboschs Top 10 Länder-Pavillons und hier ein Interview, das Autorin Carolin Kralapp mit Künstler Wallace Chan im Rahmen seiner Ausstellung “TOTEM” führte. In mehr Highlights abseits der Länder-Pavillons könnt ihr euch darüber hinaus hier vertiefen.

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